XII.
Kant1
(1724—1804).
Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunft-
erkenntnis zur philosophischen.
S. 10—22 Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch
außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschrän¬
kung für gut könnte gehalten werden, als allein ein
guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die
Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut,
Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Eigen¬
schaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in
mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie
können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn
der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen
soll und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum
Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben
ist es ebenso bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst
Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufrieden¬
heit mit seinem Zustande, unter dem Namen der Glück¬
seligkeit, machen Mut und hierdurch öfters auch Über¬
mut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß
derselben aufs Gemüt und hiermit auch das ganze Prinzip
zu handeln berichtige und allgemein-zweckmäßig mache;
ohne zu erwähnen, daß ein vernünftiger und unpartei¬
ischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbroche¬
nen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen
und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen
haben kann, und so der gute Wille die unerläßliche Be¬
dingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein, auszu¬
machen scheint.
Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen
selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleich-
1 Abdruck aus „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“.
Herausgegeben von Karl Vorländer. Leipzig, Verlag Felix Meiner.
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