teressen unter gewissen Umständen unvereinbar sind.
Tugend besteht nun in der Aufopferung eines kleineren
Interesses unter ein größeres, eines augenblicklichen unter
ein dauerndes, eines zweifelhaften unter ein sicheres.
Jede Idee von der Tugend, welche nicht von diesem Be¬
griff abgeleitet wird, ist in dem Maße unsicher, in dem
ihr Beweggrund (motive) zweifelhaft ist. Diejenigen,
welche, indem sie um der Sache des Friedens willen
Politik und Moral zu unterscheiden versuchen, Nützlich¬
keit als das Prinzip der ersteren, Gerechtigkeit als das
der zweiten bezeichnen., stellen damit nur die Verwirrung
ihrer Gedanken bloß. Der ganze Unterschied zwischen
Politik und Moral ist dieser: die eine bestimmt die Unter¬
nehmungen von Regierungen, die andere bestimmt das
Verhalten von Individuen. Das, was im politischen Sinne
gut ist, kann im moralischen nicht schlecht sein; wenn nicht
auch die Gesetze der Arithmetik, welche für große Zahlen
wahr sind, mit Hinsicht auf kleineZahlen falsch sein sollen.
Böses kann getan werden, während man das Prinzip
der Nützlichkeit zu befqlgen glaubt. Ein schwacher und
beschränkter Geist mag sich täuschen, indem er nur
einen Teil des Guten und Bösen betrachtet. Ein Mann,
der von einer Leidenschaft beeinflußt wird, mag sich
täuschen, indem er einen übergroßen Wert auf einen Vor¬
teil legt, welcher ihm die Unannehmlichkeiten, die mit
ihm verbunden sind, verbirgt. Das, was einen schlechten
Menschen konstituiert, ist die Neigung, Vergnügungen zu
suchen, die andere verletzen, und gerade dies setzt das
Fehlen mancher Arten von Vergnügungen voraus. Aber
wir sollten nicht auf jenes Prinzip die Fehler häufen,
welche ihm entgegengesetzt sind, und welche es allein
fortschaffen kann.
Es ist wahr, daß Epikur der einzige unter den Alten
ist, dem das Verdienst zukommt, die wahre Wurzel der
Moral erkannt zu haben; aber annehmen, daß seine
Lehren zu den Konsequenzen führen, die ihnen zur Last
gelegt sind, heißt annehmen, daß „das Glück selbst der
Feind des Glückes sein kann“. „Sic praesentibus utaris
voluptatibus ut futuris non noceas.“ Aber
man kann sagen, daß ein jeder sich selbst zum Richter
über diese Nützlichkeit machen wird, und daß jede Ver¬
pflichtung aufhören wird, wenn er glaubt, in ihr nicht
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