chen führten zur Begründung eines privaten Patronats der einflussreichen Gro߬
grundbesitzer. Offensichtlich zahlreiche Angehörige der Unter- und Mittelschicht
verzichteten lieber auf ihr Eigentumsrecht, als weiterhin von Vertretern des Staates
ausgepresst zu werden. Sie ließen ihr Landgut den mächtigen Inhabern der großen
Latifundien auf, um es künftig zu Nießbrauchrecht innezuhaben.
Dies geschah durch usufruktuarische oder prekarische Leihe, wobei im letzt¬
genannten Fall eine Bitte vorangegangen sein musste. Der Patron schützte dafür
seinen Klienten, der nun zum Beispiel als Kolone das Land weiterbewirtschaftete,
das ihm vorher gehört hatte. Die Abgaben an den Großgrundbesitzer waren für ihn
um so viel günstiger als die Steuern, dass die Änderung des Rechtstitels vom Ei¬
gentum zum Nießbrauch im Vergleich dazu das geringere Übel zu sein schien.
Römische Bauern scheuten im Bemühen um die Bewahrung ihres wirtschaftlichen
Lebensstandards nicht davor zurück, auch Germanen wie Franken, Burgunder, Go¬
ten zu ihren Patronen zu wählen, legte Salvian von Marseille offen.
Im politisch-ökonomischen Kontext der Spätantike wurden prekarische Leihe¬
verhältnisse so sehr in das Bewusstsein der intellektuell tonangebenden Gesell¬
schaft gehoben, dass ihre gedankliche Konstruktion auf theologische Zusammen¬
hänge angewandt werden konnten, um sie zu veranschaulichen. So wurde die Stel¬
lung des Menschen in Gottes Schöpfung damit verglichen. Wiederum ist Salvian
der Kronzeuge dafür. Die Menschen seien lediglich prekarische Besitzer der Ga¬
ben, die ihnen Gott gewährt habe - mit anderen Worten: Sie seien nichts weiter als
Nutznießer auf Zeit und auf Widerruflichkeit, während Gott der wahre Eigentümer
auch der irdischen Güter sei.
Ein weiterer Kontext findet sich in der gallischen Kirche. Bei der Begründung
des Klerikerstandes im Gallien um 400 wurde ein dem prekarischen Besitz ver¬
wandtes Rechtskonstrukt benutzt. Kleriker, die von Kirchengütern leben wollten,
sollten zuvor ihre Eigengüter der Kirche urkundlich schenken. Die Kirche könne
ihnen aufgrund dessen den Nießbrauch auf Lebenszeit an den geschenkten Gütern
als eine Wohltat (beneficium) einräumen. Die vorherige Auflassung des eigenen
Besitzes diente der Kirche als Sicherheit für den zu zahlenden Lebensunterhalt für
den Kleriker.
Wir befinden uns damit bereits in der Transformationsphase von der Antike zum
Mittelalter. Die christianisierte, frühmittelalterliche Gesellschaft der Franken, der
Eroberer Galliens, adaptierte das römische Rechtskonstrukt der Prekarie mit ge¬
wissen Veränderungen. Die ökonomische Organisation der Bischofskirchen baute
beispielsweise darauf auf.
Davon ist im Testament des Adalgisel Grimo von 634 ein Reflex zu finden.
Grimo erwähnt in dankbarer Erinnerung, dass er seine geistliche Ausbildung an der
Bischofskirche von Verdun erhalten und währenddessen von dieser Kirche Stipen¬
dien empfangen habe. Ein Stipendium ist eine Zuwendung zum Lebensunterhalt.
Da Grimo aus keiner armen Familie stammte, mag dies erstaunen. Einen Hinweis
zur Lösung des vermeintlichen Widerspruchs gibt der gallische Romane Prosper
Tiro von Aquitanien (ca. 390 bis etwa 463), der eine Zeit lang in Marseille lebte,
bevor er nach Rom ging, um in päpstliche Dienste einzutreten. Er erlebte die Kon¬
stituierung des Klerus als Stand in Gallien um 400. Ihm zufolge sollten Kleriker,
die von Kirchengütern leben wollten, ihre Eigengüter zuvor urkundlich der Kirche
schenken. Diese könne ihnen anschließend das Nießbrauchrecht auf Lebenszeit da¬
88