vor allem die Notlage Auskunft über effektive Formen ihrer Bewältigung be¬
ziehungsweise auch über administrative Möglichkeiten der Durchsetzung.
Für die Jahrzehnte seit der Mitte des 9. Jahrhunderts lassen sich keine ein¬
schlägigen Belege ermitteln, doch mag eine partielle Erfassungsparallele nachträg¬
lich erwähnt werden. Die Fuldaer Annalen berichten zum Jahre 852, König Lud¬
wig der Deutsche habe in Minden an der Weser einen allgemeinen Gerichtstag ge¬
halten, auf dem er die vorgebrachten Streitigkeiten des Volkes nach gerechter Un¬
tersuchung schlichtete. Erstaunlicherweise hat der König sodann eigene rechtliche
Forderungen auf Rückerstattung offenbar eigenen Besitzes gestellt mit dem Ergeb¬
nis, „daß er die ihm zustehenden Besitzungen nach dem Urteil der Rechtssach¬
verständigen des Volkes zurückerhielt {ad se pertinentes possessiones iuridicorum
gentis decreto recepit)“2,6. - Vielleicht zeigt sich an diesem Beispiel, dass selbst die
Erfassung von Königsgut nicht ganz einfach war.
In einer nicht gleichen, aber doch ähnlichen Situation befand sich Karl der Kah¬
le. Die Annalen von St. Bertin berichten zu 869, Karl habe „im ganzen Reich den
Befehl ergehen [lassen], daß die Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen ein Verzeichnis
aller ihrer Lehen (breves de honoribus suis), so viel jedes Mansen hätte, bis zum
nächsten 1. Mai einreichen; die herrschaftlichen Vasallen sollten aber die Lehen
der Grafen (beneßcia) und die Grafen die Lehen der Vasallen (beneficia) verzeich¬
nen und auf dem erwähnten Reichstage die Liste der Häuser vorlegen“3Das
Zeugnis lässt erkennen, dass dieser König den Überblick über die Benefizien für
eminent wichtig hielt, offenbar aber partiell verloren hatte. Charakteristisch ist die
Form der Erfassung: Order an die einen, eine entsprechende Aufstellung zu ma¬
chen - und dann umgekehrt an die anderen, über ihre Partner eine entsprechende
Aufstellung zu fertigen. Das System der wechselseitigen Erfassung mag einen
Kontrollzweck intendiert haben, ist jedoch relativ einfach. Offen bleibt, ob es eine
dritte Kontrollmöglichkeit etwa am Hofe gegeben hat.
Großflächige, ja reichsweite Erfassungen setzen viel planerisches Geschick vo¬
raus, das auch große Räume bereits annähernd kennt, mit Chancen und Schwier¬
igkeiten umzugehen weiß. Wenn dann auch die Verschriftung der ermittelten Da¬
ten vollauf gelingt, wird man von respektablen Verwaltungsleistungen sprechen
können! In dieser Hinsicht gibt es im großen Frankenreich wie später in frän¬
kischen Teilreichen beachtliche Zeugnisse. Es ist aber schwer, die gleichwohl gro¬
ßen Lücken zu beurteilen. Überlieferungsverluste wird man immer in Rechnung
stellen, doch wo, wann und wie sie entstanden, bleibt der Spekulation überlassen.
Wichtig ist vor allem die Erkenntnis, dass Könige im Frühmittelalter Erfassungs¬
maßnahmen einleiten und abschließen konnten, wobei letztlich das Terrain für spä¬
tere anhaltende Maßnahmen bereitet wurde. Doch es gehört zu den Besonderheiten
der deutschen Geschichte, dass die beispielsweise naheliegendste Konsequenz ei¬
ner auf Erfassungen aufbauenden Reichssteuer nicht realisierbar war. So ist es kein
Zufall, dass mit dem Ausgang der Karolingerzeit Zeugnisse erfassender Politik in
reichsweiten Zusammenhängen fehlen, da die Partikulargewalten einer zentralen
36 Annales Fuldenses ad 852 (Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte 3), bearb. von
Reinhold Rau, Darmstadt 1960, S. 45. Vgl. Emst DÜMMLER, Geschichte des Ostfrän¬
kischen Reiches, Bd. 1: Ludwig der Deutsche, Leipzig 21887, ND Darmstadt 1960, S. 366.
37 Ann. Bert, (wie Anm. 33) ad 869, S. 187.
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