Aus den Berichten über die Verhältnisse in Poitiers und Tours 589 geht hervor,
dass es angemessener ist, von Erhebungs- oder Erfassungslisten zu sprechen als
von „Steuerrollen“. Gemeint sind Listen von Personen, die zum census publicus
veranlagt wurden; census publicus aber weist auf königliche Einkünfte oder kö¬
nigliche Ressourcen und stellt eine Form des tributum publicum dar, das seinerseits
allgemein und umfassend Abgaben meint. Das Verzeichnis des tributum publicum
wird bei Gregor auch capitularium genannt'2 beziehungsweise capitularium, in
quo tributa continebantur, offenbar in Abschnitte gegliederte libri. Ob die Erfas¬
sungen flächendeckend erfolgten, ist ungewiss, angesichts erwähnter Befreiungen
auch prinzipiell nicht sehr wahrscheinlich. Die erfassenden und kassierenden kö¬
niglichen Amtsträger werden discriptores genannt, die erfasste Stadt discripta
urbs. Offensichtlich wird die spezielle Tätigkeit als describere/discribere bezeich¬
net. Die Listen wurden durch Vorlage beim König legitimiert und im königlichen
Schatzamt (regis thesaurus) aufbewahrt beziehungsweise archiviert, denn auch kö¬
nigliche Archive hat es gegeben* 26. Offen bleibt, ob entsprechende Regelungen wie
die für Poitiers und Tours auch für die anderen civitates existierten, so dass man
von flächendeckendem oder reichsweitem Erfassungssystem sprechen könnte.
Die späte Merowinger- und frühe Karolingerzeit geben kaum Hinweise, ob Er¬
fassungen größeren Stils zugunsten des Königtums erfolgten. Dieser Sachverhalt
lässt indes keine verallgemeinernden Schlüsse zu, weil die angesprochenen Jahr¬
hunderte sehr quellenarm sind und die Überlieferungsformen kein, mindestens kein
zuverlässiges Bild geben. Hier ist es aber angebracht, die eigene Fragestellung
noch einmal zu verdeutlichen. Auch in der Zeit nach Gregor von Tours, also seit
dem ausgehenden 6. Jahrhundert gibt es in der Überlieferung Zeugnisse, die auf
Registrierung und auch Erfassung materieller Werte weisen, allerdings ist nicht das
Königtum Adressat. Zumeist ist die Rede vom describere, und eine Vielzahl von
Belegen gehört in grundherrschaftliche Zusammenhänge. Die königliche Grund¬
herrschaft ist davon nicht ausgenommen. Fast immer handelt es sich aber um Teil¬
aspekte, um kleinräumige, partielle Erfassungsvorgänge. Das gilt selbst für die so¬
genannten Brevium exempla ad describendas res ecclesiasticas et fiscales von 810,
die teilweise sehr deutlich summierenden Charakter haben, jedoch nicht zwingend
erkennen lassen, dass für das Königtum erfassende Leistungsverzeichnisse reichs¬
weit beabsichtigt waren'7. Gleichwohl sind die Brevium exempla eindrucksvolle
Zeugnisse einer erfassenden Verwaltungstätigkeit, die sich an den erhobenen Da¬
ten orientieren kann, vielleicht auch bewusst Vorbild für das Königsgut sein sollte.
In gewisser Weise gilt dies auch für das berühmte Capitulare de villis (von
792/793 bis Juni 800), das in bestechender Weise auch detaillierte Verfügungen
bietet und als „einmalige Verwaltungsvorschrift“ angesprochen wurde28. Beide
Texte beziehen sich auf grundsätzlich bekanntes Königsgut, das teils minutiös er¬
fasst, vor allem kontrolliert und in seiner Wirksamkeit gesteigert werden soll zu¬
2:1 Vgl. Esders (wie Anm. 16), S. 214.
26 Reinhard Schneider, Zur rechtlichen Bedeutung der Kapitularientexte, in: Deutsches
Archiv zur Erforschung des Mittelalters 23 (1967) S. 273-295; Ders., Schriftlichkeit und
Mündlichkeit im Bereich der Kapitularien, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. von
Peter Classen (Vorträge und Forschungen 23), Sigmaringen 1977, S. 257-279.
2 MGH Capitularia I, ed. Alfred Boretius, 1883, Nr. 128, S. 250-256.
28 MGH Capitularia I, Nr. 32, S. 82-91.
102