Anweisung immanent. Zudem spielt es den literarischen Topos des locus amoenus und die
bildliche Vorstellung des Liebesgartens ein. Doch hat die Beliebtheit und Durchsetzungs¬
kraft der Bildformel vor allem zwei Gründe, einen formalen und einen damit eng ver¬
knüpften ikonographischen. Zum einen ist es die exquisite Symmetrie und strenge Fronta-
lität des Motivs, die auf Zeit-Losigkeit und exemplarische Gültigkeit des Dargestellten
verweist: Nicht von ungefähr sind fast alle Ereignisse von höchster heilsgeschichtlicher
Verbindlichkeit — Kreuzigung, Himmelfahrt, Pfingsten, Jüngstes Gericht — als frontal¬
symmetrische Darstellungen formuliert. Der zweite, auf dem ersten basierende Grund für
die Durchsetzungskraft des Motivs liegt darin, dass es die traditionell ebenfalls frontal-
symmetrische Bildformel des Sündenfalls aufruft: ein Baum, flankiert von einer männli¬
chen und einer weiblichen Figur, darunter eine Quelle — der Paradiesesfluss —, im Baum
erkennbar ein gekrönter Kopf, die Schlange. Zweifellos hat das zeitgenössische Publikum
und haben die adeligen Damen, die mit den damit geschmückten Gegenständen täglich
umgingen, beim Anblick der Tristan-Baumgartenszene den vertrauten Sündenfall-Bildtyp
assoziiert. Und schon die Übertragung der christlichen Bildformel auf den profanen Stoff,
zumal bei Objekten, die dem höfischen Luxus dienten, lässt vermuten, dass die Allusion
auf den ursprünglichen Sinngehalt bewusst intendiert war. Dennoch reckte sich der höfi¬
schen Dame, wenn sie ihre Spiegelkapsel öffnete, kein klerikaler, vor dem amor camalis
warnender Zeigefinger entgegen. Die Anspielung findet auf einer eher spielerisch¬
ironischen Ebene statt: Zwar wird auch hier ein Sündenfall, der Literatur entnommen,
herbeizitiert — nämlich ein Ehebruch —, aber eben ein listenreich verschleierter, gelingt es
doch Marke nicht, Tristan und Isolde zu überführen, da ihn beide, sein Spiegelbild in der
Quelle erkennend, täuschen können.
Manche Luxusartikel im Gebrauch höfischer Damen verweisen noch deutlicher auf das
Minnethema. Auf einer französischen Spiegelkapsel von etwa 1320N" ist ein berittenes Paar
abgebildet: Der Mann fasst der Frau mit der linken Hand unters Kinn. Hinter der Reiter¬
gruppe gehen zwei Begleiter, die sich, wie ihre Gestensprache verrät, über diesen Vorgang
unterhalten. Ganz vorne im Bild, unter den Reitern, springen zwei Hasen hintereinander
her - beliebter ikonographischer Hinweis auf sexuelle Lust —, die mit ihrem ziemlich ein¬
deutigen Verhalten auf das Ziel der amourösen Gesichtsberührung in der Hauptszene an-
spielen (Abb. 19). Das Berühren des Gesichts als Zeichen erotischen Begehrens ist ein
gängiges ikonographisches Signal. Auf dem Malterer-Teppich aus der ersten Hälfte des 14.
Jahrhunderts,M der vermutlich anlässlich der Hochzeit von Johannes und Anna Malterer
entstand, streichelt der bei seinen Büchern sitzende Aristoteles Phyllis’ Kinn und Wange,
die ihn anschließend - rechts - zum Minnesklaven macht. Ein vermutlich in Basel zu Be¬
ginn des 15. Jahrhunderts geschnitztes Lindenholzkästchen8“ bringt auf dem Deckel eine
80 London, Victoria & Albert Museum, siehe Camille: The Medieval Art of Love (wie Anm. 68), S. 101 f. mit
Abb. 86.
81 Siehe dazu Ott, Norbert H.: „Minne oder amor carnalis? Zur Funktion der Minnesklaven-Darstellungen
in mittelalterlicher Kunst“, in: Jeffrey Ashcroft / Dietrich Huschenbett / William Henry Jackson (Hg.):
LJebe in der deutschen Literatur des Mitteialters. St. Andrews-Colloquium 1985, Tübingen 1987, S. 107-125, hier
S. 108-110.
82 Villingen-Schwenningen, Franziskanermuseum. Siehe Camille: The Medieval A.rt of Tove (wie Anm. 68),
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