Brokatkissen zu sehen; links hat sich eine vornehme Dame in kostbaren Gewändern mit
hohem, modischem Spitzhut, ein Hündchen auf dem Schoß, zum Gebet niedergesetzt,
das Gebetbuch auf einem grünen Schutztuch aufgeschlagen vor sich.
Zur Identifizierung der dargestellten Personen gibt es nur Indizien. Dass das Gebet¬
buch für eine Frau bestimmt war, ist unstrittig: Formulierungen wie die im Confiteor der
Marienmesse, wo von einer infelixpeccatrix die Rede ist, belegen dies. Der hohe Qualitäts¬
und Repräsentationsanspruch der Handschrift und ihrer Miniaturen, die gut belegte Ver¬
bindung der Künstler Spierinc und van Lathem mit dem burgundischen Hof in Gent —
Spierinc hat sich mit mehreren Miniaturen auf das Kreuzigungstriptychon der Genter Ka¬
thedrale bezogen —, die Dienste beider Künsder für den Herzog, lassen kaum einen ande¬
ren Schluss zu als den, dass die Handschrift für eine Dame des Hofs in Auftrag gegeben
wurde, und ihr späteres Schicksal - sie verblieb in der Hofbibliothek, kam später in den
Besitz des Kaisers Matthias L, der 1577-1580 Gouverneur der Niederlande war, sie nach
Prag oder Wien mitnahm, von wo aus sie 1727 aus der kaiserlichen Privatbibliothek in die
Wiener Hofbibliothek kam - spricht ebenso dafür. Die gängige Deutung der Szene will in
der Dame an den Altarstufen im Hauptbild Maria von Burgund sehen, in der Dame im
Vordergrund ihre Stiefmutter Margarete von York, deren Hofhaltung sich ebenfalls in
Gent befand und die Maria die Handschrift zur lange geplanten und bald bevorstehenden
Hochzeit - im April 1477 heiratete sie Maximilian I. - geschenkt habe.44
Ich möchte eine andere Deutung vorschlagen. Es ist zweifelhaft, dass die Auftraggebe¬
rin und Schenkerin der Handschrift statt ihrer Besitzerin und Benutzerin derart positio¬
niert, ja präpotent ins Bild gerückt wird. Der Blick des Betrachters wird von Maria im Mit¬
telgrund, deren leuchtendblauer Mantel ihn unmittelbar aufsaugt, sofort auf das helle In¬
karnat der Dame im Vordergrund gelenkt, einer jugendlichen Person, die außer dem Ge¬
wand nichts von der Dame links im Hauptbild unterscheidet. Dargestellt ist, so nehme ich
an, beide Male Maria von Burgund: bei der privaten Andacht, wozu ein Stundenbuch ja
schließlich diente, mit ihrem Schmuck und ihrem Schoßhündchen im Wohnraum vorne,
und in öffentlicher Funktion mit Hofstaat, Windspiel und Publikum im Hauptbild. Das
Fenster, das die durchlässige Grenze zwischen Innen und Außen, Wohnraum und Kirche,
privat und öffentlich bildet, fungiert gleichsam als Spiegel, der beide Sphären gleichzeitig
reflektiert — was, kunsthistorisch gesehen, den Maler des Bildes auf der Höhe seiner Zeit
zeigt: Das Spiel mit Fenstern in dieser Doppelfunktion war in der Bildkunst des 15. Jahr¬
hunderts geradezu modisch. Auch in der Miniatur der Kreuzannagelung 43' (Abb. 9)
nutzt der Künstler den Blick aus dem Fenster: Hier steht ein geöffnetes Schmuckkästchen
auf der linken Fensterbank, auf der rechten liegt auf einem schwarzen Tuch ein aufge¬
schlagenes Gebetbuch, dessen Verso-Seite eine Kreuzigungsminiatur schmückt. Zu bei¬
den Seiten des Fensters sind Steinplastiken angebracht: links Abraham, den der Engel dar¬
an hindert, seinen Sohn zu töten, rechts Moses mit der ehernen Schlange — alttestamentli-
che Vorbilder der Kreuzigung sie beide. In der Fensterbrüstung liegt das nämliche Bro¬
katkissen wie auf Blatt 14', das nur darauf wartet, der Benutzerin des Gebetbuchs — oder
dem Bildbetrachter? — als Armstütze zur meditativen Versenkung in die vor dem Fenster
44 So Unterkircher: Brevier (wie Anm. 41), S. 34.
34