Obwohl die Dichterinnen niemals vom explizit geistlichen Thema abweichen, füllen sie
doch oftmals den gegebenen Rahmen durch stark erotisch geprägte Bilder aus, die auf die
Vereinigung von der Seele mit Christus hinzielen, wie dies in Lied Nr. 18 der Fall ist:
(5) Den han ik mi to fründe koren,
unde mine trüwe öme gesworen.
(6) Wan ik ön to fründe han,
so bin ik küsk unde wolgetan.70
Dies macht sich noch viel deutlicher in einem „Farbenlied“ bemerkbar, wo Strophe für
Strophe der symbolische Wert von einzelnen Farben behandelt wird, was in der weltlichen
Liebeslyrik genauso zur Sprache kam, wie etwa die dritte Strophe, die sich auf ,rot‘ bezieht,
unmissverständlich zum Ausdruck bringt:
Roder farwe der hebbe ik vel,
in der leve so brent myn hertz;
dat se dat nicht erkennen wil,
dat dot my seker smertz.
Dat szegehe ik van hertzen gherne:
ach mochte ik by er syn!
ik hope, dat se jo wil schir
ere junghe hertze to my keren,
wor ik in elende bynf1
Zwei Fragmente von so genannten Volksliedern (Nr. 12 und Nr. 14) verraten weiterhin,
wie interessiert die Schreiberinnen am populären Liedgut außerhalb des Klosters gewesen wa¬
ren und dass sie nicht zögerten, wenn sich eine Gelegenheit bot, dieses in ihre eigenen Hand¬
schriften aufzunehmen.
7. Schlussfolgerungen
Schließen wir unsere Betrachtungen damit ab und versuchen wir, einige der wichtigsten Be¬
obachtungen zusammenzufassen. Ohne Zweifel lässt sich nun festhalten, dass Frauenklöster
überall im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger je nach der personalen Zusammen¬
setzung und nach den finanziellen Möglichkeiten intensiv oder zumindest aktiv an der geistli¬
chen Literaturproduktion beteiligt waren, und dies grundsätzlich für den eigenen Gebrauch. 2
Der Bildungsstand in Klöstern schwankte erheblich, aber die Welt des Latein war keineswegs
ein absolutes Privileg der Männerklöster, wie vor allem die norddeutschen Frauenklöster vor
Augen führen. Weiterhin dürfen wir nun festhalten, dass viele Bibliotheken in spätmittelalter¬
lichen Klöstern gut bis außerordentlich reich ausgestattet waren, wenngleich die meisten heu¬
70 Zitiert nach: Classen (wie Anm. 7, ,Mein Seel fang an %u singen), S. 64-65.
1 Vgl. dazu etwa „Nach grüner färb mein hertz verlangt“ (Nr. 57) im Ambraser Liederbuch-, siehe Gassen, Alb-
recht: Deutsche Uederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts (Volksliedstudien 1), Münster / New York / München /
Berlin 2001, S. 37. Ausführlich dazu Lutz, Eckart Conrad: ¡Das Dießen hofenerlJederblatt. Ein Zeugnis späthöfischer
Kultur (Literatur und Geschichte am Oberrhein 3), Freiburg i. Br. 1994, S. 26, dort auch weiterführende Lite¬
ratur (Anm. 44).
72 Classen, Albrecht: „The Medieval Monastery as a ,Gesamtkunstwerk‘. The Case of the ,Heideklöster' Wien¬
hausen and Ebstorf‘, in: Studi medievali XLI11, Fase. II (2002) S. 503-534.
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