praktiken. Günstige Ausgangsbedingungen entstehen durch eine enge Anbindung an die
Zentren des Buchdrucks (Paris, Lyon, Poitiers) sowie - dies gilt in besonderem Maße für
den Salon der Herzogin von Retz — durch die (relative) Durchlässigkeit der Soziotope Sa¬
lon, Hof und Akademie. Freundschaftsbeziehungen, überregionale bzw. internationale
Vernetzungen sowie lnterkulturalität in Form von Mehrsprachigkeit und Teilhabe an ver¬
schiedenen Kulturen erweitern den jeweiligen Horizont, wobei es auch innerhalb ein- und
desselben Jahrhunderts gerade hinsichtlich des ,Offnungsgrads£ eines Salons erhebliche
Unterschiede gibt. Dies verdeutlicht die Gegenüberstellung des zum (protestantischen)
Fluropa weit geöffneten ,Familiensalons' von Jean de Morel und Antoinette de Loynes mit
dem der Herzogin von Retz, für den vor allem der Austausch mit Italien zählt. Die wich¬
tigsten Medien des Transfers sind hierbei die Konversation sowie die Übersetzung und
imitatio italienischer Modelle (Petrarca, Ariost). Netzwerke entstehen zum einen auf der
Grundlage familiärer Beziehungen zu Italien, zum andern auf jener der Beziehungen der
als ,Neun Musen4 in den Gedichten auftretenden Freundinnen und hier vor allem über
das feminine ,Dreieck4 der Herzogin von Retz, der Marguerite de Valois und der Hen¬
riette de Nevers.
Ähnlich dürfte auch das Mäzenatentum (Architektur, Philosophie, Musik, Malerei und
Literatur) im Umkreis dieses Salons funktioniert haben, bei dem erneut die starke Aus¬
richtung an Italien auffiel. Wir nehmen dieses multiple Mäzenatentum heute allerdings nur
noch als Fragment, nicht mehr in seiner ursprünglichen Einheit wahr. Ferner treten der
Herzog und die Herzogin von Retz als Stifterpaar auf, das sich mit dem Franziskanerklo¬
ster in unmittelbarer Nähe zum Schloss von Noisy einen Ort der Memoria schafft. Wie
die beiden Retz als Mäzen- bzw. als Stifterpaar im Einzelnen agieren, bleibt allerdings un¬
klar; lediglich für den Bereich der Musik gibt es einige Hinweise.
Beide sind jedoch die Zentralfiguren des im Salon der ,Dyctinna4 entstandenen Salon-
Albums, auch wenn der weibliche Part hier eindeutig die Hauptrolle als Objekt der Huldi¬
gung, als Adressatin panegyrischer Gedichte und (gezügelter) erotischer Phantasien inne¬
hat. Vielstimmigkeit und Mehrsprachigkeit, die Beteiligung von Männern und Frauen, die
Gruppierung um die Zentralfigur einer salonniere, eine Vielfalt literarischer (hier: lyrischer)
Kleingattungen und Themen, thematische Diversität, ein großer Anteil an aktualitätsbe¬
zogener Gelegenheitsdichtung, eine aleatorisch wirkende Anordnung: Dies sind einige
Merkmale des Salon-Albums der Herzogin von Retz, die sich auch auf andere Vertreter
dieser Gattung übertragen lassen und dazu beitragen, diesen Texttypus in seiner Eigen¬
schaft als schriftliche Repräsentation der in einem Salon/cabinet praktizierten Formen der
Kommunikation und Geselligkeit präziser zu erfassen. In Sammlungen dieser Art und in
der sich dort vollziehenden Umwandlung der flüchtigen Mündlichkeit der Konversation
in Schrift und Schriftlichkeit liegt ein Schlüssel zur Salonkultur der Frühen Neuzeit.
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