6. Portrait einer salonnière
Nähert man sich dieser Figur von einem Gegenwartsstandpunkt, so führt eine erste Spur
zu ihrem Salon und den beiden Orten, an denen dieser stattfand - und die heute nicht
mehr existieren. Was bleibt, sind historische Baubeschreibungen eines Schlosses in der
Provinz sowie Gedichte, die diese Orte evozieren. Die Jahrzehnte von 1570-1600 sind die
Blütezeit des Salons der Herzogin von Retz, die dort versehen mit den Namensmasken —
ihren Salon-Namen — ,Pasithée‘, ,Dyctinne4 oder ,Minerve4 auftritt, und zwar an zwei Or¬
ten: Im Winter ist es in Paris der Stadtpalast, das Hôtel der Dampierre im Faubourg Saint-
Honoré, an der Kreuzung der heutigen Rue de Castiglione und der Rue de Saint-Honoré;
im Sommer verlagert die Gruppe um Claude-Catherine ihren Treffpunkt auf das Schloss
von Noisy-le-Sec, nordöstlich von Paris und in der Nähe von Versailles gelegen.
VUE DU CHATEAU DE NOISY
A. Manesson-Mai.I.ET, la Géométrie pratique-, Paris, 1702, 4 vol. in-8", t. 1. p. 169
Abb. 3: Das Schloss von Noisy-le-Sec
Das anonyme, in Alexandrinern abgefasste Langgedicht „Le séjour de Dyctinne et des
Muses44 (,Der Aufenthaltsort der Dyctinna und der Musen4) vermittelt eine Vorstellung
von diesen Orten und der sie dominierenden Figur. Es steht nahezu im Zentrum jener
Sammlung von Gedichten, deren Entstehungskontext der Salon der Retz ist und die zum
Teil als eine Art poetisches Tagebuch der dort versammelten Gruppe gelesen werden
kann. Zudem trägt es deutliche Spuren seiner Entstehungszeit, der Religionskriege, die ab
15_72 Frankreich in einen Zustand des permanenten Bürgerkriegs versetzen. Angesichts
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