duytlicher lyblicher klage Jhesu unserm herren
dancken syns lydens und dar tzu groys heyl
Wer den geyst Jhesu hayt un(d) daz mynneboych
verstayt der weys waz ich han gesayt.
Hatte Karl-Ernst Geith, der sich als Germanist seit langem mit dem Text beschäftigt,
zunächst die ab 1452 als Übersetzerin tätige Schwester Regula aus dem badischen Zister-
zienserinnenkloster Lichtenthal als Übersetzerin auch dieses Textes vorgeschlagen, musste
er seine Ansicht nach der Publikation der Lütticher Handschrift und dem dadurch mitge¬
teilten festen Datum einer Entstehung der Übersetzung vor 1451 — dem Todesjahr der
Bestellerin Elisabeth von Görlitz — revidieren. Vernünfdger Weise wird man die Entste¬
hung der Lütticher Handschrift in die Zeit um 1445 (-1451) setzen; ein genaues Datum
fehlt im undatierten Codex. Fester Anhaltspunkt als terminus post quem non ist der Tod
der Bestellerin im Jahr 1451.
ln seinem zuletzt erschienenen Aufsatz (2000), der den zahlreichen Überheferungspro¬
blemen der kleinen Textgruppe gewidmet ist, resümiert Geith zum Problem der Regula-
Übersetzung:
Als Übersetzerin muß sie [Regula] [...] ausscheiden. Der wirkliche Übersetzer oder die wirkliche
Übersetzerin muß aber eine Person gewesen sein, die alle Kennzeichen der Persönlichkeit von Regula
ebenfalls aufwies, d.h. so etwas wie ein Doppelgänger von Regula gewesen sein mußte.18
Schwester Regula hat mit anderen Worten eine ihr vorliegende Übersetzung adaptiert;
ob die Doppelgänger-Theorie tragfähig ist, muss noch diskutiert werden, was hier aber
nicht geleistet werden kann. Die Übersetzungsvorlage muss aus dem Niederdeutschen be¬
ziehungsweise Niederländischen gekommen sein, denn auf fol. 2v der Regula-Handschrift
steht die Bemerkung: n>a mrf ottmuotikait styl haist demuotikait nych vnser sprych. Die bei¬
den Handschriften in Lüttich und Chantilly verwenden das Wort durchgängig, was darauf
hindeutet, dass der Übersetzer dieser Redaktion aus diesem Sprachraum stammt.
Hartmut Beckers hat in einem ausführlichen Schreiben zur Sprache der Handschriften
in Lüttich und Chantilly mitgeteilt:
Der Sprachstand der beiden Hss. [... ist] nicht einheitlich, sondern weist Mischcharakter auf. Grund¬
sätzlich könnte man sagen: der Lautstand ist im Konsonantismusbereich überwiegend rheinfränkisch,
im Vokalismusbereich dagegen eher moselfränkisch. Auch im Bereich der Morphologie und des
Wortschatzes stehen neben eher südlichen (rheinfränkischen) Elementen andere eher nördlicherer
Prägung. [...] Gerade diese Mischung nördlicherer und südlicherer Kennzeichen paßt durchaus ins all¬
gemeine Bild, das die Schreibsprache deutscher Texte aus dem Trierer Raum während der 2. Hälfte
des 15. |hs. bietet. |.„] Da zu vermuten ist, daß die beiden (mutmaßlichen) Trierer Hss. von einer älte¬
ren Vorlage abgeschrieben sind, liegt zunächst die Vermutung nahe, daß die fraglichen Codices im
moselfränk. Raum entstandene Abschriften einer südlicher beheimateten (am ehesten wohl rheinfränk.)
Vorlage seien.
18 Geith, Karl-Ernst: „Lateinische und deutschsprachige Leben-Jesu-Texte. Bilanz und Perspektiven der
Forschung“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 12 (2000) S. 273-289.
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