3.1. Interferenznamen in der Familie des Apollinaris Sidonius
In mehreren Regionen Galliens, bei Allobrogem, Häduern, Treverern, Reinem
und Silvanecten, sind seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. die Gentilnamen Solius
und, häufiger, Sollius zu fassen, die nach allgemeiner Meinung einheimischen
Ursprungs sind. Lateinisch solius ,ganz‘ begegnet nur noch in Komposita wie
soll-emnis ,feierlich', gut bezeugt ist dagegen sölus ,allein'. Sollius begegnet
nur dreimal in Italien (einschließlich Roms), ist aber in ganz Gallien weit ver¬
breitet (Forier 2001, S. 482). Ein Sollos ist ferner auf einer gallischen Münze
bezeugt (RIG IV 270).
Als Etymon wird traditionell gallisch soli- anstelle *süli- ,Auge, Blick4 an¬
genommen, man vergleicht irisch süil ,Auge‘, britannisch Sulis und den
gallischen Personennamen Sulinos (KGPN S. 270f.; 287; ACS II Sp. 1665).
Der ungewöhnliche Wechsel der Langvokale (?) ö/ü soll seine Erklärung in
der Latinisierung des Namens finden. Dass es sich um ein autochthones Na¬
menelement handelt, wird durch Komposita bekräftigt wie Soli-bodui, Soli-
curi (Genitiv), Soli-dumniae (Dativ), Soli-marus/a/ius, Soli-rix u.a. (KGPN S.
271). Pierre-Yves Lambert (1980, S. 177) bietet eine stimmigere Erklärung
unter Hinweis auf die Verbindung *su-ul-i- aus *su- ,gut‘ und der Schwund¬
stufe der keltischen Verbalwurzel *uel- ,sehen4 (Schumacher 2004, S. 669-
675, *uel-e/o-), also ,einen guten Blick habend4. Zum gallischen Präfix su-
(vgl. altindisch su-, griechisch eu- u.a.) ist eine Variante so- gut bezeugt, der
o/w-Wechsel folglich leicht erklärbar. Damit wären auch der altbretonische
Name Hoel und der kymrische Hywel direkt vergleichbar; beiden liegt *.so-
uel-o- zugrunde (weitere Deutungen: DLG S. 287).
Wie in vielen gallischen Familien, gibt es auch unter den gentes Solliae
eine große Anzahl einheimischer Beinamen. Allein die Inschrift CIL XII 2252
aus Grenoble nennt Gaius Sollius Marcus und dessen Kinder Gaius Sollius
Marculus, Attia Marciana und Marcula. /ftta-Namen (etwa ,Papa‘) sind in
Gallien zahlreich vertreten, gleichen aber den römisch-mediterranen Bildun¬
gen, so dass sie kaum als unrömisch gegolten haben werden. Marcus, mit sei¬
nen zahlreichen Ableitungen wie Marcu/us/a, Marciana usw., stellt ebenfalls
einen perfekten Interferenznamen dar, weil er sowohl lateinisch verstanden
werden kann - als märcus ,zu Mars gehörig4 - als auch ein geläufiges
keltisches Motiv aufgreift: markos ,Pferd4. Eine weitere Variante begegnet in
Marcus Sollius Marcellus in der Inschrift CIL XII 2316. In Alba ist ferner eine
Sollia Ursa (Forier 2001, S. 526) bezeugt, die das erwähnte Bärenmotiv in
lateinischer Übersetzung vorführt. Weitere Beispiele sind Gaius Sollius
Lucentus, Seranius Sollius (Raepsaet-Charlier 2001, S. 356), Sollia Fi da,
Sollia Annia (Remy 2001, S. 114), Sextus Sollius Demosthenianus (Remy
2001, S. 126).
Einer der Familien der Sollii gehört eine der bedeutendsten Persönlichkei¬
ten des 5. Jahrhunderts n. Chr. an, der Schriftsteller Gaius Sollius Modestus
(?) Apollinaris Sidonius (ca. 431-486), der dem hohen Beamtenadel ange¬
hörte. Sein Großvater Sollius Apollinaris war Prätorianerpräfekt der Westpro¬
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