zen". Aus einem solchen Bedrohungsszenario hat dann die NS-Pädagogik in
vielfältiger Weise ihre Konsequenzen gezogen.
Damit komme ich allmählich zum Schluss, denn die weiteren Folgen dieser Ideo¬
logie brauchen hier, wenige Wochen bevor in den Massenmedien an die Sta¬
lingradereignisse vor sechzig Jahren erinnert wird, nicht weiter ausgeführt zu
werden!
An zwei Beispielbereichen - der Großstadtkritik und der Männerbundideologie
- habe ich exemplarisch zu zeigen versucht, wie die Zeitgenossen auf das um
1900 brisant angewachsene Gespür für die Ambivalenzen der Moderne und des
Fortschritts reagiert haben. Die Reaktionen selbst waren dann ebenfalls wieder
höchst ambivalent: Sie reichten von auch heute noch bedenkenswerten Analy¬
sen und Warnungen bis hin zu radikalen Lösungsstrategien und brutalen
Aktionen gegen Gegner - wie die des fanatischen Bruders Jonas in der ein¬
leitend nacherzählten Geschichte über "Doktor Knölge's Ende" von Hermann
Hesse. Jedenfalls gehört zur Ambivalenz des modernen Fortschrittglaubens
immer auch die "Tendenz der Selbstvernichtung"; darauf haben nicht nur Zeit¬
kritiker wie Ludwig Klages schon vor dem Ersten Weltkrieg, sondern später
auch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und viele weitere Denker hingewie¬
sen. Der Schweizer Flistoriker Herbert Lüthy hat diese Erkenntnis folgender¬
maßen auf den Punkt gebracht: Der Blick auf die Geschichte der Moderne mit
ihrer gewaltigen Verbesserung des gesamten technisch-wissenschaftlichen
Instrumentariums habe "stets in ungefährem Gleichgewicht das Überlebens- und
immer auch zugleich das Zerstörungspotential ... bis zur heutigen Höhe ge¬
steigert." In der Verbesserung des Instrumentariums als solcher bestehe jedenfalls
keine Gewähr für eine Verwendung des wissenschaftlichen Fortschritts "nach
höheren Prinzipien als denen der Urhorde."
Um überhaupt ethische Maßstäbe zu gewinnen und um jenes Instrumentarium
human zu benutzen, bedarf es jedenfalls auch und nicht zuletzt der historischen
Analyse: der Analyse der längerfristigen Prozesse ebenso wie der Wahrneh¬
mungen, Zukunftsängste und Deutungsweisen unserer Vorgänger. Erst so
erschließt sich z.B. auch das in umfassenderer Breite, was man "Industriekultur"
nennt.
Wenn Historiker heute darüber mit Recht klagen, dass ihre Künste meist nur für
die aktuelle Zerstreuung wie z.B. bei runden Kalenderdaten und Jubiläen gefragt
werden, dann gelten sie oft als larmoyant! Deshalb klang das bemerkenswerte
Grußwort unseres Bundespräsidenten zum gerade zu Ende gegangenen Histori¬
kertag in Halle auch wie das schöne Lied eines einsamen Sängers in einer an¬
sonsten trockenen Wüste, denn Rau wies den Historikern in unserer Gesell¬
schaft eine sehr viel umfassendere Aufgabe zu als nur intelligente Narren in der
Medienwelt mit ihrer überbordenden "Anlasskultur" zu sein! ln diesem Sinne
wünsche ich der nun 50-jährigen Kommission für Saarländische Landesge¬
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