sion über einen neuen Menschen beteiligten Disziplinen Psychologie, Biologie,
Medizin, Soziologie, Kulturphilosophie, Anthropologie und Völkerkunde in
ihr Konzept, weil sie es möglich machten, wissenschaftlich begründet von jener
Idee Abschied zu nehmen, dass es eine ab ovo vorhandene Grundidee
"Mensch" gebe und diese Idee Richtung und Ziel der Evolution trotz aller
Umwege unablässig bestimme. Stattdessen sei es die natürliche Auslese, die auf
Herausforderungen der konkreten Umwelt reagiere und immer differenziertere,
aber letztlich nicht auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtete Organismen ent¬
stehen lasse. Der Schritt zum Einfordern eines "Rechtes des Stärkeren", über¬
tragen auf den Bereich des gesamten menschlichen Zusammenlebens, war dann
nicht mehr weit, auch wenn Darwin selbst so weit nicht gegangen war. Und die
Idee der Züchtung eines besonders starken Herrengeschlechts als Erlösung aus
der zivilisatorischen Misere lag damit ebenfalls bereits in der Luft. Neben Auto¬
ren wie Paul de Lagarde und Langbehn verbreitete eine Fülle von vulgärwissen¬
schaftlichen Schriften gerade auch biologischer und medizinischer Provenienz
die neuen Heilslehren.
All diese Elemente flössen mit ein in eine besonders zukunftsträchtige Konzep¬
tion, deren Ursprung im Jahre 1902, also exakt vor hundert Jahren, liegt. In
diesem Jahr - einem politisch recht farblosen Jahr! - erschienen in Deutschland
mehrere bemerkenswerte Bücher und Texte, so z.B. Lenins berühmte Schrift
"Was tun?" und Ellen Keys "Das Jahrhundert des Kindes", Werner Sombarts
"Der moderne Kapitalismus", Theodor Herzls "Altneuland", Georg Simmels
"Weibliche Kultur", Hofmannsthals "Brief an Lord Chandros", aber auch das
Werk eines gewissen Willibald Hentschel mit dem Titel "Varuna": Der Verfasser
versuchte darin zu beweisen, dass die arische Rasse am Scheidewege stehe und
ein neues Geschlecht dazu berufen sei, ein "Heldenvolk der Zukunft" hervor¬
zubringen: "Das neu entstandene arische Kampf-Ideal der deutschen Nation"
schaffe den Helden der Zukunft, einen "germanischen Lykurgos"; ihn zeichne
"arischer Hochsinn" aus; er werde den "Heilsweg der arischen Völker - die
planvolle Züchtung der hellen Rasse - vorbereiten". Jeweils hundert "Ario-
Heroiker" sollten in speziellen eugenischen Zuchtkolonien mit tausend "Nor-
dinnen" zusammengebracht werden, um so eine "neue völkische Oberschicht"
zu zeugen. Dass vor der Realisierung solcher oder ähnlicher Pläne ein gesell¬
schaftlicher Führungswechsel ganz besonderer Art erzwungen werden musste,
war den Wortführern klar: "Ein Blutwechsel tut der Nation not, eine Empörung
der Söhne gegen die Väter, die Ersetzung des Alters durch die Jugend", lautete
z.B. eine besonders klingende Parole bei Arthur Moeller van den Bruck 1904.
Auch in dieser Richtung lassen sich viele weitere ähnliche Aufbruchsappelle,
werbende Phrasen, hoffnungsvolle und zugleich zeitkritische Analysen sowie
utopische Entwürfe von Geburtshelfern unterschiedlicher Herkunft nachweisen,
die sich alle intensiv darum bemühten, dem neugeborenen Jahrhundert auf die
Sprünge zu helfen. Nur ein Beleg noch, weil er auf die Ursprünge von Adolf
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