Full text: Forschungsaufgabe Industriekultur (37)

Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus 
größte Domäne der Wissenschaft." 
Die planlos wuchernden Zusammenballungen von immer riesigeren Menschen¬ 
massen in gesichts- und seelenlosen Großstadtvierteln wurden im Gefolge jenes 
Krisengefiihls als Beweis dafür betrachtet, dass der Kampf zwischen Stadt und 
Land mit der endgültigen Niederlage des Landes zu enden drohte, wenn nicht 
grundlegende Änderungen der Entwicklungsrichtung eintraten. Der "Aus¬ 
saugung" des Landes durch die "Landflucht" und der allmählichen Ausbreitung 
von immer mehr Elementen der Massenzivilisation auf das Land sollte vor allem 
durch Abwehrmaßnahmen einerseits und eine Neubewertung des ländlichen 
Lebens als "Quelle, aus der das gesamte Volk Erfrischung und Erstarkung 
schöpfte", andererseits begegnet werden. Mit anderen Worten: Das Land, ver¬ 
herrlicht als der eigentliche und ursprünglich gesunde Wurzelgrund des Volkes, 
schien durch die parasitäre Existenz und das krebsartige Wuchern der großen 
Städte in deren unausweichliche Katastrophe mit hineingezogen zu werden, 
wenn es sich nicht auf seine Funktion als völkischer "Urquelle" besann und 
entsprechend durch den Staat geschützt und gefördert wurde. Zur Untermaue¬ 
rung der Argumente wurden bei der Auseinandersetzung um die Stadt psycholo¬ 
gische, biologische, medizinische und soziologische Erkenntnisse der Zeit zu 
einem vulgärwissenschaftlichen Gesamtbild zusammengefügt, das nicht zuletzt 
dadurch, dass es eine statistisch belegbare und wissenschaftlich fundierte Objek¬ 
tivität suggerierte, so viele Anhänger im Bürgertum fand. So versuchten Sozial¬ 
darwinisten wie Otto Ammon durch Schädelmessungen und die Analyse son¬ 
stiger somatischer Merkmale wie Haar- und Hautfarbe die körperliche und psy¬ 
chische Degeneration der Großstädter nachzuweisen und zu belegen, dass die 
Wanderung in die Großstädte eine negative Auslese und Verkümmerung der 
Rasse bewirkte und dahinsiechende Unterschichten auf der einen wie durch 
"Uberzivilisation" degenerierte, zeugungsunfähige höhere Stände auf der ande¬ 
ren Seite schuf. 
Zitate wie dieses lassen sich in großer Zahl leicht finden; sie belegen ein zum 
Teil demagogisches Eiferertum und ein krasses Schwarzweißdenken der Protago¬ 
nisten. Allerdings machte man es sich aus der Rückschau zu leicht, wenn man 
die gesamte Vielfalt der damals geäußerten Kritikpunkte pauschal als "Präfaschis¬ 
mus", "völkischen Wahn" oder "regressiven Antikapitalismus" verurteilte. Das 
war es auch, aber immerhin artikulierten sich darin durchaus ernst zu nehmende 
Ängste und Verlusterfahrungen der Zeitgenossen, die bis heute keineswegs 
bewältigt sind, im Gegenteil! Aber: Die starke Emotionalisierung der Debatten 
mit ihrer aggressiven Stoßrichtung, vor allem die mit dem Anspruch von Wis¬ 
senschaftlichkeit auftretende, rassenbiologische Fundierung der Argumente, trug 
auf Dauer mit zu einer Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas bei, bot De¬ 
magogen vielerlei Ansatzpunkte und lieferte wichtigen Teilen der damaligen 
jungen Generation entscheidende Sinnstiftungsangebote und Erklärungsmo- 
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