und der in England bereits sichtbaren üblen Folgen der Industrialisierung von
ihrem positiven Fortschrittsbild abgerückt. Ende des Jahrhunderts, als dann
auch noch der Rausch der Begeisterung über die Reichseinigung verflogen war
und die vielen Risse in der Wilhelminischen Gesellschaft immer unübersehbarer
wurden, griffen Fortschrittskritik, Antiurbanismus und Agrarromantik noch
weiter um sich, während gleichzeitig Naturwissenschaften und Technik einen
gewaltigen Aufschwung verzeichneten. Besonders das Bildungsbürgertum
fühlte sich jetzt aus seiner Rolle als bisheriger Deuter der Dinge, als Interpret der
geistigen Welt und als Architekt von Ordnungsentwürfen mehr und mehr
verdrängt. Neue Spezialisteneliten aus den aufblühenden modernen Wissen¬
schaften sowie das großbürgerliche Unternehmertum liefen ihm zunehmend bei
den Schaltstellen der Macht den Rang ab. Deren neues Credo lautete wie das
Motto der olympischen Spiele seit 1896: citius, altius, fortius (schneller, höher,
stärker). Die öffentliche Meinung und öffentliche Kultur beherrschten nun nicht
mehr so sehr die traditionellen, humanistisch gebildeten Kreise, sondern diverse
neue Gruppen, von den Großindustriellen, Ingenieuren und Technikern über
eine an Einfluss gewinnende Gruppe von Intellektuellen, Künstlern und Bohe¬
miens bis hin zu den geistigen Führern der Arbeiterbewegung. Nur ein Datum in
diesem Zusammenhang: 1899 wurde den Technischen Flochschulen das Promo¬
tionsrecht eingeräumt. Vor allem an der industriegewerblichen Großstadt und
den wuchernden Industrieagglomerationen entzündeten sich die Kontroversen.
Hier ist mein erster Beispielbereich angesiedelt, auf den ich exemplarisch etwas
ausführlicher eingehen möchte:
Wollten die einen mit Hilfe moderner Infrastruktur, Daseinsvorsorge, Architektur
und Stadtplanung den Menschen auch in der Großstadt ’Heimat' schaffen, so
führte die Zusammenballung der Menschenmassen in den großen Zentren nach
Meinung der anderen zu menschenfressenden Gebilden, deren mörderische
Qualität nicht zuletzt auch in vielen literarischen Produkten und in einer gro߬
stadtfeindlichen Lyrik angeprangert wurde. So heißt es z.B. in der letzten Stro¬
phe des von Georg Heym stammenden Gedichts "Der Gott der Stadt":
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Lobten die einen den Lebensstil des Großstädters als Zeichen für das Entstehen
eines neuen, weltoffenen Menschen, der höhere Ansprüche zu bewältigen
gelernt habe, was wiederum seine "Auffassungsgabe und einen weiten großzügi¬
gen Blick und die Arbeitsleistung (fördere)", so sahen die anderen im Großstadt¬
menschen ein Wesen, das "der freien Natur und den ihm allein zugänglichen
Lebensumständen entzogen und unabänderlich zur Entartung verdammt" war.
Priesen die einen die vergangenen Jahrzehnte als Zeitalter der großen Erfin-
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