etwa 1900 in der bürgerlichen Öffentlichkeit, vor allem im Bildungsbürgertum,
beträchtliches Aufsehen erregte: das Auftreten von "barfüßigen Propheten" mit
vielerlei lebensreformerischen z.T. aggressiven Heilslehren, die die Großstadt¬
menschen wegen ihrer "groben Fleischeslust", also des Verzehrens von "Tier¬
leichnamen", und ihrer "naturwidrigen Kleidung" beschimpften. Vor allem aber
waren diese "Kohlrabiapostel" wie Karl Wilhelm Diefenbach (geb. 1851) und
Gusto Gräser (geb. 1879) die provozierenden Speerspitzen einer breiten Bewe¬
gung, die den "neuen Menschen" kreieren wollte.
ln dieses säkulare Zukunftsprojekt mit seinem in vielen Farben schillernden
Konzept vom "neuen Menschen" flössen viele, auch höchst heterogene Vorstel¬
lungen ein, doch ein Grundzug verband sie alle: das Spannungsverhältnis
zwischen einem massiven Unbehagen an der modernen Entwicklung, die der
bisher so hoch gelobte Fortschritt inzwischen ausgelöst hatte, und dem Glau¬
ben, dass der Mensch mit seinen vielen neuen Entdeckungen und Einsichten,
wenn er sie nur richtig nutzte, in der Lage sei, eine bessere Zukunft zu schaffen.
Nur wenige Zeitgenossen bezweifelten damals schon, dass menschlicher Fort¬
schritt zum höheren Menschsein entweder - wie die einen annahmen - durch
umfassenden Einsatz der grandiosen neuen naturwissenschaftlichen, medizi¬
nischen und technischen Fortschritte oder - wie die anderen erhofften - durch
eine Mobilisierung der natürlichen Kräfte des Menschen in einer renaturalisierten
Umwelt zu erzielen sei. Zu diesen grundsätzlichen Skeptikern gehörte dann
später zum Beispiel Erich Kästner, der sein berühmtes Gedicht "Die Entwicklung
der Menschheit" ironisch enden lässt:
So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.
Zunächst einige Bemerkungen also zum Fortschrittsbegriff, ehe ich an zwei
Beispielbereichen dessen Ambivalenz vorstellen werde. Der Begriff "Fortschritt"
ist gerade erst einmal gute zweihundert Jahre alt; er kam ungefähr gleichzeitig mit
dem Begriff "Geschichte" auf und geht im Wesentlichen auf Immanuel Kant
zurück. Im Jahre 1798 hatte der Königsberger Philosoph programmatisch ver¬
kündet: "Alle Fortschritte in der Kultur, wodurch der Mensch seine Schule
macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten
zum Gebrauch für die Welt anzuwenden ...", und Kant fragte deshalb: "Welchen
Ertrag wird der Fortschritt zum Besseren dem Menschengeschlecht abwerfen?"
Von dem weit gehend zirkulären Denken des Mittelalters und der frühen Neuzeit
setzte sich also angesichts des Erlebnisses der immer rascheren Beschleunigung
und infolge des Glaubens an die Aufklärbarkeit und Verbesserung ('Verede¬
lung') der Menschen eine nach vorn, in die Zukunft gerichtete Verzeitlichung
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