Full text: Forschungsaufgabe Industriekultur (37)

etwa 1900 in der bürgerlichen Öffentlichkeit, vor allem im Bildungsbürgertum, 
beträchtliches Aufsehen erregte: das Auftreten von "barfüßigen Propheten" mit 
vielerlei lebensreformerischen z.T. aggressiven Heilslehren, die die Großstadt¬ 
menschen wegen ihrer "groben Fleischeslust", also des Verzehrens von "Tier¬ 
leichnamen", und ihrer "naturwidrigen Kleidung" beschimpften. Vor allem aber 
waren diese "Kohlrabiapostel" wie Karl Wilhelm Diefenbach (geb. 1851) und 
Gusto Gräser (geb. 1879) die provozierenden Speerspitzen einer breiten Bewe¬ 
gung, die den "neuen Menschen" kreieren wollte. 
ln dieses säkulare Zukunftsprojekt mit seinem in vielen Farben schillernden 
Konzept vom "neuen Menschen" flössen viele, auch höchst heterogene Vorstel¬ 
lungen ein, doch ein Grundzug verband sie alle: das Spannungsverhältnis 
zwischen einem massiven Unbehagen an der modernen Entwicklung, die der 
bisher so hoch gelobte Fortschritt inzwischen ausgelöst hatte, und dem Glau¬ 
ben, dass der Mensch mit seinen vielen neuen Entdeckungen und Einsichten, 
wenn er sie nur richtig nutzte, in der Lage sei, eine bessere Zukunft zu schaffen. 
Nur wenige Zeitgenossen bezweifelten damals schon, dass menschlicher Fort¬ 
schritt zum höheren Menschsein entweder - wie die einen annahmen - durch 
umfassenden Einsatz der grandiosen neuen naturwissenschaftlichen, medizi¬ 
nischen und technischen Fortschritte oder - wie die anderen erhofften - durch 
eine Mobilisierung der natürlichen Kräfte des Menschen in einer renaturalisierten 
Umwelt zu erzielen sei. Zu diesen grundsätzlichen Skeptikern gehörte dann 
später zum Beispiel Erich Kästner, der sein berühmtes Gedicht "Die Entwicklung 
der Menschheit" ironisch enden lässt: 
So haben sie mit dem Kopf und dem Mund 
den Fortschritt der Menschheit geschaffen. 
Doch davon mal abgesehen und 
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund 
noch immer die alten Affen. 
Zunächst einige Bemerkungen also zum Fortschrittsbegriff, ehe ich an zwei 
Beispielbereichen dessen Ambivalenz vorstellen werde. Der Begriff "Fortschritt" 
ist gerade erst einmal gute zweihundert Jahre alt; er kam ungefähr gleichzeitig mit 
dem Begriff "Geschichte" auf und geht im Wesentlichen auf Immanuel Kant 
zurück. Im Jahre 1798 hatte der Königsberger Philosoph programmatisch ver¬ 
kündet: "Alle Fortschritte in der Kultur, wodurch der Mensch seine Schule 
macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten 
zum Gebrauch für die Welt anzuwenden ...", und Kant fragte deshalb: "Welchen 
Ertrag wird der Fortschritt zum Besseren dem Menschengeschlecht abwerfen?" 
Von dem weit gehend zirkulären Denken des Mittelalters und der frühen Neuzeit 
setzte sich also angesichts des Erlebnisses der immer rascheren Beschleunigung 
und infolge des Glaubens an die Aufklärbarkeit und Verbesserung ('Verede¬ 
lung') der Menschen eine nach vorn, in die Zukunft gerichtete Verzeitlichung 
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