Full text: Forschungsaufgabe Industriekultur

die Industriefotografie war schon längst von einem Industriebürgertum in Be¬ 
schlag genommen, bevor die Arbeitenden dies selbst konnten. 
Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden die Motive wichtig, die betriebliche 
Leistungskraft dadurch vorzufuhren, dass isolierte, perfekte Produkte präsentiert 
wurden - dies war für Alben und Broschüren zur Verkaufsförderung, für Wer¬ 
bung gedacht, Funktionen, die jetzt nicht mehr ausschließlich von der Grafik 
übernommen wurden.12 Die Industriefotografie weist in ihren ersten Jahrzehnten 
einen relativ konservativen Charakter von Grundmotiven und fotografischen 
Betrachtungsweisen auf, was freilich auch durch die Kontinuität der realen 
Motive und dahinter stehenden Interessen im Industriesystem bedingt war. 
Explizite soziale Motive und, etwa gleichzeitig in der Phase der Neuen Sachlich¬ 
keit, stilisierte Gegenstände sowie die Monumentalisierung von Produktions¬ 
anlagen gewannen in den zwanziger Jahren an Boden. Dies entfernte die Indus¬ 
triefotografie von unmittelbaren Auftraggebern, sie wurde zu einem autonomen 
"künstlerischen" Genre, also zu einer legitimen "Kunst" durch Künstler-Fotogra¬ 
fen, die ihre eigenen Bildbände herausbrachten, nur noch partiell als Auftrags¬ 
arbeiten. Diese neue Sichtweise ebnete die bisher gültigen Unterschiede zwi¬ 
schen diesen Gegenständen, zwischen dem Schönen der Kunst und dem Häss¬ 
lichen des Alltags ein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte die 
Industriefotografie dann immer stärker Kontexte, öffentliche Räume, Landschaf¬ 
ten, Verkehr und Wohnen einbeziehen, nach einzelnen Genres und regional 
differenziert, immer weiteren Publiken zugänglich werden, den Wechsel zur 
Dienstieistungsgesellschaft und die Umnutzung der Industrieorte im postindus¬ 
triellen Zeitalter reflektieren - das ist bereits ein anderes Kapitel.1' 
Eine weitere mediale Innovation in den zwanziger Jahren war das Aufkommen 
der Bildreportage, die laut Luc Boltanski immer so tut, als ob die Dinge jetzt 
geschehen. Zeichner und später Fotografen begeben sich an die Schauplätze, wo 
stets Akteure vorgestellt werden müssen.14 Seit den zwanziger Jahren wird sie 
stärker durch Fotos aktualisiert, die als besonders authentisch gelten, und mit 
einer häufig penetranten politischen und sozialpolitischen Aussage verknüpft: 
dadurch rückt sie ins Vorfeld von Propaganda. Dieser Modus schlägt auf das 
Feld der Industriefotografie zurück, führt dort zu formalen Innovationen und 
Verschiebungen der Aufmerksamkeit. 
12 Rudolf Herz, Gesammelte Fotografien und fotografierte Erinnerungen. Eine Geschichte 
des Fotoalbums an Beispielen aus dem Krupp-Archiv, in: Bilder (Anm. 3), S. 241-267, hier 
S. 254f. 
13 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht unsystematisch aufgearbeitet, aber umfassend 
illustriert, zeigt sich der paradigmatische Wechsel in: Schwarzweiß und Farbe. Das Ruhr¬ 
gebiet in der Fotografie, hrsg. von Sigrid Schneider. Essen 2000. 
14 Luc Boltanski, Die Rhetorik des Bildes, in: Pierre Bourdieu u.a., Eine illegitime Kunst. 
Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt am Main 1983, S. 137-163, hier 
S. 140-142. 
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