Von der fortschrittlichen auf gesellschaftliche Partizipation ausgerichteten Sozial¬
politik der Weimarer Zeit wie der jungen Bundesrepublik war das Saarland
abgetrennt. Aus der Zuschauerperspektive blickte man auf eine Gewerkschaften
stärkende Betriebs- und Tarifverfassung und den Aufbau und die Entwicklung
des Arbeitsrechts. Auch wenn in der Völkerbundszeit diese Entwicklung be¬
wundernd verfolgt wurde, so spielten diese Defizite spätestens ab 1923 keine
entscheidende Rolle mehr, da nationale Denkmuster sozialpolitische Fragen
überlagerten.
Nach 1945 ist die Situation wesentlich differenzierter. Einerseits kommen die
Saarländer in den Genuss einer staatlichen Sozialpolitik, die genau auf die
Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit zugeschnitten ist und die Identifikation
mit der autonomen Saar stärken sollte, andererseits unterblieb eine auf Partizipa¬
tion ausgerichtete Sozialpolitik. Die französische Seite ließ sie nicht zu, weil sie
mit französischen Traditionen nicht vereinbar war und sie Rückwirkungen auf
Frankreich befürchtete. Es gab keine Tarifvertragsautonomie, teilweise wurden
die saarländischen Gewerkschaften als Tarifvertragspartner nicht anerkannt. Die
Gewerkschaften konnten damit nur eingeschränkt die für ihre Mitglieder wich¬
tigste Interessenvertretung wahrnehmen, die Rolle der "Lohnagentur" war aber in
einer Zeit wachsender Wirtschaft und des inflationären französischen Franken
besonders bedeutsam. Die geringen Mitbestimmungsmöglichkeiten im Saar¬
grubenrat wie die arbeitgeberfreundliche Betriebsräteverordnung verhinderten,
dass die Gewerkschaften innerhalb der Betriebe in eine mitbestimmende und
mitgestaltende Rolle hineinwachsen konnten. Dies ist um so bedeutsamer, als
die autonomistisch ausgerichteten Gewerkschaftler im Saargrubenrat ihr Interesse
an einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mehrfach und ernsthaft zum Ausdruck
gebracht hatten. Das Vorenthalten von Partizipationsmöglichkeiten wog um so
schwerer, als in der Bundesrepublik mit der Montanmitbestimmung besonders
fortschrittliche Regelungen umgesetzt waren. Die französische Seite und hier vor
allem die französischen Vertreter der Régie und die Sequesterverwalter der Hütten
verwehrten Arbeiterschaft und Gewerkschaften soziale Partizipation. Sie nährten
damit die sowohl in der Preußenzeit wie in der Völkerbundszeit in der saarlän¬
dischen Gesellschaft gewachsenen Inferioritätsgefühle. Zugleich schufen sie eine
Angriffsfläche, die von der prodeutschen Opposition erkannt und aufgegriffen
wurde. Die sozialpolitischen Defizite wurden zum Anknüpfungspunkt na¬
tionaler Denkweisen, zurück zur Bundesrepublik bedeutete nicht nur die Teilha¬
be an einer fortschrittlicheren Betriebsverfassung, sondern auch das Ende von
latenter Inferiorität und Fremdbestimmung, die im Alltag mit der Trikolore und
dem Französischunterricht in den Grundschulen ebenso sichtbar war wie vor
allem in den Gruben, in denen junge französische Ingenieure mit Stoppuhren
die Gedingeleistung erfassten. Insofern konnten auch die hohen Sozialleis¬
tungen keine proautonomistische Überzeugung ausprägen, zumal sich die
Menschen an sie gewöhnt hatten und sie als selbstverständlich erachteten. Erst
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