Im deutschen Arbeiter-Turnerbund waren lange Zeit Strömungen wirksam, die
sich prinzipiell gegen Wettkämpfe richteten. Als sich nach der Jahrhundertwen¬
de bei der Mitgliedschaft ein wachsendes Interesse an Sportarten wie Leicht¬
athletik und Fußball bemerkbar machte, reagierten Teile der Arbeiter-Turnfunk¬
tionäre mit einer ablehnenden Haltung, die ihrerseits die auch in Deutschland
geführten Diskussionen zwischen Anhängern des Turnens und des Sports
widerspiegelte.58 Ihren Argumentationen zufolge entsprach das Turnen am
ehesten der sozialistischen Ideologie, weil es kollektiv und unter Verzicht auf
Wettkämpfe ausgeübt werden könne und das Solidaritätsgeiuhl ebenso wie die
allgemeine Körperbildung des Arbeiters fördere. Der moderne Sport sei hingegen
durch den Wettkampf- und Konkurrenzgedanken gekennzeichnet und bringe
zwangsläufig eine Spezialisierung mit sich, die auch aus gesundheitlichen
Erwägungen abzulehnen sei/9
Der Aufschwung des modernen Sports war aber auch innerhalb der deutschen
Arbeiterjugend unaufhaltsam und ideologische Argumente verfehlten ihre
Wirkung, zumal sie sich mit dem politischen Auftrag kaum in Einklang bringen
ließen: Wollte man möglichst viele Arbeiter von der Mitgliedschaft in einer
bürgerlichen Konkurrenzorganisation abbringen und sie stattdessen politisch an
die Arbeiterbewegung binden, konnte man sich nicht auf den bisherigen Erfol¬
gen bei der Mitgliederrekrutierung ausruhen, sondern musste neueren Strömun¬
gen Rechnung tragen.60 Weniger aufgrund innovativer Richtungsweisungen
"von oben" als vielmehr durch den Druck von außen und von der eigenen
Mitgliedschaft war "der ATB am Vorabend des Ersten Weltkriegs dabei, sich
von einer Turn- zu einer modernen Körperkulturorganisation zu wandeln, die
neben Turnen und Sport auch Hygiene, Tanz, Nacktkultur und Naturerlebnis
einbezog."61 1919 erfolgte die Umbenennung in Arbeiter-Turn- und Sportbund
(ATSB).
Da sich eine signifikante Veränderung der konkreten Sportpraxis nicht herbei¬
führen ließ, sahen sich die Arbeitersportfunktionäre umso mehr aufgefordert,
eine Ideologisierung der sportlichen Aktivitäten im sozialistischen Sinne vor¬
zunehmen und den politischen Erziehungsauftrag der Arbeitersportbewegung zu
betonen.62 Den Diskursen französischer Arbeitersportfunktionäre zufolge sollte
58 Siehe dazu das Kapitel "Kulturkampf zwischen Turnen und Sport: Traditionelle und
moderne Bürgerlichkeit im Konflikt" in Christiane Eisenberg, "English sports" und deutsche
Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999, S. 250-260.
59 Vgl. Teichler (Anm. 13), S. 469-472; Hajo Bernett, Das Problem einer alternativen
Sportpraxis im deutschen Arbeitersport - untersucht am Beispiel der Leichtathletik, in:
Arbeiterkultur (wie Anm. 16), S. 51-54.
60 Bernett (Anm. 59), S. 53 sprach in diesem Zusammenhang von einem "Dilemma" des
Arbeitersports.
61 Teichler (Anm. 13), S. 471.
62 Dieses Schema traf auch auf die internationale kommunistische Arbeitersportbewegung
der Zwischenkriegszeit zu. Vgl. André Gounot, Die Rote Sportinternationale, 1921-1937.
Kommunistische Massenpolitik im europäischen Arbeitersport. Münster 2002.
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