Kulturen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet werden sollten.
Steinbach und Petri galt die deutsch-französische Sprachgrenze sogar als die
„verhältnismäßig beständigste, festeste1 Linie“, die in ganz besonderem Maße
kulturraumbildend wirke23 und deshalb „von vornherein als Grundlinie“
fungieren solle, „auf die alle andern Kulturgrenzen zu beziehen sind“.24 Dabei
gestanden sie freilich zu, daß man sich „mit dem Fehlen der sprachlichen
Einheit“ in einem durch die Jahrhunderte fortbestehenden Spannungsfeld
zwischen politischer Einheitstradition und sprachlich-kultureller Differenz „in
wechselnder Weise abgefunden hat“: „Neben Stücken, wo die Sprachgrenze
viele hundert Jahre mit einer scharfen Staats- und Kulturscheide zusammenfällt,
stehen bedeutendere andere, wo sie seit ebensolanger Zeit die Staats-,
Wirtschafts- und Kulturräume scheinbar ohne tiefgehende Wirkung mitten
durchquert“25 - ein zunächst erstaunliches Phänomen, das sich nur dann
überzeugend begründen lasse, wenn es gelinge, in ausgewählten Teilräumen
und in ausführlichen Einzelanalysen „das Auftreten“ sprachlicher wie
„nichtsprachlicher Kulturerscheinungen zur Sprachgrenze in Beziehung zu
setzen“.26
Gerade für Lothringen, das Steinbach und Petri zum Paradigma des sprach-
grenznahen Raumes erhoben hatten,27 sind bis heute allenfalls Ansätze zur
Lösung dieser schon in den dreißiger Jahren vorgegebenen Aufgabe unternom¬
men worden, durch die „die Erforschung der großen europäischen Kultur-
zusamrnenhänge von der Sprachgrenze her neue Beleuchtung empfangen“
sollte.28 So lassen sich denn auch hinsichtlich der von Petri formulierten
Prognose, daß es „für die Abgrenzung [...] der großen Völker- und Kultur¬
kreise [...] keine scharfe Grenzlinie, sondern nur eine breite Grenzzone mit
einem Gewirr von meist in steter Verlagerung befindlichen Linien geben wird“,
wobei sich „Grenzkulturen von mehr oder weniger ausgesprochener selb¬
ständiger Eigenart und Bedeutung“ einschieben, die ausgleichend wirken und
„Vermittler der stärksten Art“ darstellen,29 auf vielen Ebenen bisher nur
Vermutungen anstellen. Bis zu einem gewissen Grade bestätigt findet sie sich
durch die Analysen französischer Historiker, die für Oberlothringen den Zeit¬
raum des 12. und 13. Jahrhunderts als „le temps de la pénétration française“30
bezeichnen, weil „die Beziehungen zwischen dem Reich und seinen romani¬
23 Ebd. S. 24: „Deshalb wirken nationale Sprachgrenzen stets auch in bedeutendem Maße
kulturraumbildend“.
24 Ebd. S. 5.
25 Ebd. S. 3.
26 Ebd. S. 12.
27 Vgl. z.B. Petri: Volkserbe, Bd. 1, S. 717-767.
28 Petri: „Erforschung“, S. 4.
29 Ebd.
30 Racine: Lorraine, S. 31.
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