Full text: Grenzkultur - Mischkultur?

Der „Arbeiterwohnungsbau“ war insofern - in Deutschland wie in Frankreich - 
eher ein Wohnungsbau für die untere Mittelschicht als für Arbeiter.29 
Schlettstadt erweist sich in diesem Zusammenhang als vom eher deutschen 
ebenso wie vom eher französischen Weg geprägt. Der französische Unter¬ 
nehmer Paul Cuny aus der Nähe von Epinal baute dort während der deutschen 
Zeit eine Feinspinnerei auf und schloß an seine Fabrik 1908 immerhin 100 
Arbeiterwohnungen in kleinen Doppelhäusern mit Garten an.30 Das städtische 
Projekt zum Bau von Arbeiterwohnungen war kurz davor wegen finanzieller 
Engpässe gescheitert. Der Bürgermeister hatte sich eine etwas gewagte 
Querfinanzierung über den Armenrat erdacht, die vom Bezirkspräsidenten in 
Straßburg abgelehnt wurde. Die Gründung einer von der Stadt getragenen 
kommunalen Baugesellschaft, für die der Bürgermeister mit viel Aufwand 
Werbung gemacht hatte, scheiterte daher. Erst nach dem Weltkrieg wurde der 
öffentliche Bau von kleinen Wohnungen durch den Office Public des HBM 
stärker in Gang gesetzt.31 
Schlußbemerkung 
Landau, Schlettstadt/Selestat und Beifort wurden nach dem Krieg von 1870/71 
stark umgestaltet. Von Festungsstädten entwickelten sie sich zu bürgerlichen 
Kleinstädten. Dies war ein bewußt in Gang gesetzter Prozeß örtlicher Eliten, 
der sich zum einen nach oben gegen das Militär und den Staat mit ihren 
Ansprüchen an die Städte wandte, zum anderen aber auch nach unten gegen die 
meist noch in traditionellen Lebensformen verharrende Bevölkerung, die erst zu 
einem bürgerlichen Habitus erzogen werden mußte. Das war in Frankreich 
nicht anders als in Deutschland. Unterschiedlich war in den beiden Ländern der 
Weg, mit dem man das Ziel dieses bürgerlichen Wandels zu erreichen suchte. 
In Frankreich wurden bürgerliche Notabein in privaten Einzelinitiativen oder 
privaten, von Notabein getragenen Genossenschaften und gemeinnützigen 
Aktiengesellschaften aktiv. In Deutschland war dies weniger üblich, wenn man 
allerdings auch ein Vorhaben wie die Margaretenhöhe in Essen als Betriebs¬ 
siedlung von Krupp und ähnliche Projekte durchaus nicht vergessen darf. Im 
deutschen Kaiserreich wurde der beginnende Kleinwohnungsbau allerdings 
schon stärker von den Kommunen vorangetrieben. In Gang gesetzt wurden die 
städtischen Aktivitäten jedoch vor allem von Unternehmern, höheren Beamten 
und Vertretern freier Berufe, die sich in den Stadträten und Verwaltungen aus 
ähnlichen Motiven wie ihre französischen Kollegen in privaten und genossen¬ 
schaftlichen Projekten engagierten. 
29 Vgl. Schech 1912, S. 171-173. 
3(3 Vgl. Archives Municipales Selestat 101/22, Filature de Selestat an Maire de Selestat, 
1.9.1920. 
31 Vgl. Archives Municipales Selestat 101/22, Aktenvorgang 1909. 
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