Die Frage, ob durch die aufgezeigten Kontakte eine aus Elementen der franzö¬
sischen und deutschen bzw. lothringischen und saarländischen Kultur beste¬
hende neue Kultur entsteht, ist eigentlich nicht zu beantworten. Das würde
nämlich voraussetzen, daß es diese diskreten Kulturen überhaupt gibt, was an¬
gesichts der seit Jahrhunderten bestehenden wechselvollen Kontakte frankopho¬
ner und germanophoner Kultur in dem untersuchten Grenzraum kaum anzu¬
nehmen ist. Die Frage ist anders zu beantworten, wenn man in Betracht zieht,
daß sich die lothringische und die saarländische Bevölkerung durch die in
jüngster Zeit intensivierten Beziehungen nun besser kennen, ja sogar die eine
oder andere Lebensgewohnheit des Nachbarn übernehmen, aber durchaus unter
Beibehaltung der eigenen kulturellen Identität.
Welche konkreten Konsequenzen lassen sich aus diesen Reflexionen ableiten?
Wie wir sehen konnten, sind die meisten der beschriebenen Beziehungen zwi¬
schen Lothringen und dem Saarland wirtschaftlich motiviert. Sie basieren auf
den durch die Staatsgrenze markierten unterschiedlichen Rechtssystemen und
Faktorpreisen. Ziel des europäischen Integrationsprozesses ist jedoch nicht zu¬
letzt die Vereinheitlichung der materiellen Lebensbedingungen in den Staaten
der EU durch Harmonisierung eben jener Rechtssysteme und Wirtschafts¬
bedingungen. Nach Vollendung des Binnenmarktes werden daher in den Staaten
der EU die Grenzräume zumindest einen Teil der so bedingten wirtschaftlichen
Attraktivität verlieren. So erleben wir einserseits diesen Angleichungsprozeß,
zugleich aber auch die nachlassende deutsche Sprachkompetenz der Lothringer,
die letztlich auf eine Kongruenz von Sprach- und Staatsgrenze hinauslaufen
wird. Wenn dann die deutsch-französische Grenze im wesentlichen auch den
Charakter einer Kulturgrenze, annimmt, kann, wohlgemerkt: kann dies eine
zunehmende Entfremdung zwischen Saarländern und Lothringern zur Folge
haben. Vieles spricht jedoch dafür, daß durch solche scheinbare Entfremdung
das Interesse für die Nachbarn jenseits der Staatsgrenze eher größer wird, dies
geradezu als Reaktion auf die wachsende Globalisierung mit ihren Tendenzen
zu kultureller Vereinheitlichung. Ein so motiviertes Interesse bewirkt nicht nur
ein vertieftes gegenseitiges Kennenlernen, sondern auch einen Prozeß der
Selbstdifferenzierung der Bewohner des gesamten Grenzraumes. Ein solcher
Prozeß wäre in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Er wirkt auf die Bevölkerung
beider Räume kohäsiv, mit der Folge, daß ein gemeinsamer saarländisch¬
lothringischer Raum zunehmend Gestalt annimmt.8 Dieser bildet nicht nur ein
wichtiges Scharnier zwischen beiden Staaten, sondern erhält nach innen wie
nach außen eine attraktive Identität durch das Miteinander, nicht aber durch
eine Mischung der Kulturen.
Vergleiche in diesem Zusammenhang die insbesondere in der sogenannten ,JNeuen
Regionalgeographie“ entwickelten Konzepte der Regionenbildung, welche auch unter
dem Uberbegriff der Institutionalisierung von Regionen systematisch untersucht werden
(vgl. Paasi 1986; Dörrenbächer 1997; 1998).
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