anderen einer Polarisierung Englands und Schottlands im 18. Jahrhundert
- insbesondere seit der Union, welche Scott im Grenzbereich hautnah er¬
lebt und auf seine Heimat bezieht. Die Zuordnung der Balladen zum
Grenzgebiet ist so Ausdruck einer Grenzziehung, an der Scott selbst teilhat
und die er doch zugleich aufzuheben trachtet.
Scotts ambivalente Haltung zur englisch-schottischen Grenze soll nun nicht an
den Border Ballads, sondern an seinem wichtigsten historischen Roman
Waverley näher dargestellt werden. Der Name Waverley steht schon in Bezug
zur Grenzerfahrung. Grenzgang und Grenzerleben führen für den Helden zu
Identitätskonflikten, zum Zaudern und Schwanken im Roman, für das der
telling name Waverley steht. Waverley bewegt sich zwischen Engländern und
Schotten, zwischen whigs und tories, zwischen lowlanders und highlanders und
sympathisiert mit (fast) allen. Nennt Scott ihn abschätzig „a sneaking im-
becile“, so ist dies allerdings ein wenig zu streng, bedenkt man, daß Waverley
(1) die Sympathie des Lesers suchen muß, der sich ihm als einem Führer in
die exotische Fremde Schottlands anvertraut und mit seinen Fährnissen
mitfiebert.
(2) wie Georg Lukacs gezeigt hat, ein idealer Held ist für das Ausloten ver¬
schiedener Kulturbereiche, da er immer wieder die Fronten wechselt und
dabei das Kriegsgeschehen des Jahres 1745 von vielen Seiten durchleuch¬
tet. Gerade die perspektivische Aufsplitterung des historischen Geschehens
kann als eine der großen Leistungen Scotts angesehen werden, nimmt sie
doch Aspekte späterer multiperspektivischer Romane vorweg, wobei sie
zugleich nationalistischen Polarisierungen entgegenwirkt.2
Die Grenzen aber verlaufen nicht nur zwischen Schottland und England, son¬
dern auch zwischen lowlands und highlands, die politischen Grenzen trennen
Whigs, Tories und Jakobiten. Waverley, der Zaudernde, wird das Opfer sich im
Kriegsgeschehen dauernd verschiebender Fronten, zwischen die er gerät. Schon
der erste Blick auf die Grenzfrage in Scotts Waverley belehrt uns über die
Unzuverlässigkeit und Artifizialität von politischen und geographischen
Grenzziehungen, eine Beobachtung, die auch die Border Ballads bestärken,
bewegen sie sich doch zwischen schottischen, skandinavischen und keltischen
Einflüssen und geographisch zwischen Aberdeenshire, Gesamtschottland und
den borders. Mündlich tradierte Kulturzeugnisse respektieren Grenzen noch
weniger als schriftlich fixierte und nur Scotts Heimatliebe sowie seine Fundorte
erlauben die Zuordnung der Balladen zur border country.
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Vgl, Wolfgang Iser: „Möglichkeiten der Illusion im historischen Roman“, in:
Nachahmung und Illusion, ed. H. R. Janß, Poetik und Hermeneutik I, München: Fink
1964, S.135-156.