Walter Göbel
Grenzziehungen/Grenzaufhebungen in Walter Scotts
WAV ER LEY
Das ursprüngliche mir von den Organisatoren der Konferenz vorgeschlagene
Thema hieß: „Walter Scott und die Border Balladsein Thema, bei dem das
zu behandelnde Werk die Grenzfrage schon benennt. Meine Zusage kam
prompt aus mehreren Gründen: aus einem ureigenen Interesse an dem, was die
moderne Kulturtheorie The Location of Culture nennt,1 sowie aus der
Merkwürdigkeit, daß ich bisher vieles zur englischen, nichts aber zur schotti¬
schen Kultur, der Kultur meines Mutterlandes also, geschrieben habe. Ein theo¬
retisches Interesse paarte sich demnach mit einem biographischen an der eige¬
nen Grenzbestimmung, an der Hybridität der eigenen Existenz - und ähnlich
dürfte es Scott bei vielen seiner Werke ergangen sein.
Einige Nachforschungen über die Border Ballads führten allerdings zu einer
gewissen Ernüchterung: offenbar stammt nach neueren Erkenntnissen ein
Großteil der Balladen nicht, wie gemeinhin - und auch von Scott - angenom¬
men, aus der englisch/schottischen Grenzregion, vielmehr ist die Heimat der
Balladendichtung im Nordosten Schottlands zu suchen, in Aberdeenshire, wo¬
bei sich deutliche skandinavische Einflüsse zeigen. Ungefähr zwei Drittel der
überlieferten schottischen Balladen stammen aus dieser nordöstlichen Region,
von der im 13. Jahrhundert ein reger Handel mit Skandinavien ausging (vgl.
Vertrag von Perth aus dem Jahre 1266, spezifiziert Verluste der merchants im
Handel). Keltische Einflüsse zeigen sich vor allem in den Melodien und der
Metrik der Balladen, thematisch überwiegen die skandinavischen Elemente.
Aus diesen Beobachtungen lassen sich vor allem zwei Schlüsse ziehen:
(1) Das Balladengut entstammt nicht einer homogenen Kultur, sondern ist
Zeugnis kultureller Hybridisierung zwischen piktischer, schottischer, kelti¬
scher und skandinavischer Kultur.
(2) Daß sich Walter Scott als border minstrel bezeichnet, die Balladen als
Minstrelsy of the Scottish Border herausgibt und behauptet, „the border
was once peopled with poets“, ist weniger Zeichen eines kulturellen
Mißverständnisses als zum einen des Fundorts der Balladen für Scott, zum
So auch der Titel eines Werkes des Kulturtheoretikers Homi K. Bhabha, London:
Routledge 1994.
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