Full text: Grenzkultur - Mischkultur?

führen manche Autoren auf den litauischen Einfluß zurück (vgl. Adomaviciute/ 
Cekmonas 1991). 
Lexikalische Entlehnungen aus dem Litauischen sind besonders markant - nicht 
zahlenmäßig, sondern weil sie dank der schöngeistigen Literatur ins Hoch¬ 
polnische eingedrungen sind, wie z.B.: rojsty (lit. roistas) ,Sumpfgebiete4,17 
zagary (lit. zagarai) »Reisholz4,111 dyrwan (lit. dirvonas) ,Brache, Wiese4. Sie 
haben eine poetische Aura und sind somit in ihrer Extension eingeschränkt. 
Das Verhältnis zwischen Hochpolnisch und polszczyzna kresowa, die 
Aufnahmebereitschaft in den Katalog der allgemein gültigen lexikalischen und 
grammatischen Normen, ist schon ein Thema für sich. In diesem Vortrag geht 
es jedoch wesentlich um die Adstratrolle der Literatursprachen Polnisch und 
Russisch. Diese These kann man vor allem mit Bezug auf die sprachliche 
Situation nach 1945 hinreichend begründen. 
Ein halbes Jahrhundert der Isolierung vom Mutterland bei gleichzeitiger 
Sowjetisierung der ganzen Gesellschaft - mit dem Russischen als Instrument 
dieser Ideologisierung - führte dazu, daß die Entfernung zum Polnischen - 
dem natürlichen Etalon für eine ohnehin lokale Varietät - immer größer wurde. 
Onomasiologische Tests unter Studenten aus polnischen Familien in Wilna 
(vgl. Masojc 1995) belegen, daß dieser Generation nicht selten russische 
Bezeichnungen vieler Berufe, Objekte und Alltagssituationen besser bekannt 
sind als ihre polnischsprachigen Äquivalente (z.B. anstelle von internista geben 
sie den Namen terapeuta (russ. терапевт) an, komposter (russ. компостер) ist 
besser bekannt als kasownik ,Entwerter4, analog elektryczka (russ. электричка) 
- kolejka ,S-Bahn‘, gruzczyk (russ. грузчик) - tadowacz »Transportarbeiter4, 
wspyszka (russ. вспышка) - lampa btyskowa »Blitzlicht4 usw.).* 1^ 
Die scheinbar verlorene Position gewinnt das Standardpolnische seit den 90er 
Jahren in der Konfrontation mit dem Russischen zurück. Die Wiederbelebung 
der Kontakte auf allen Ebenen, die Ausbildung der litauischen Polen an 
Hochschulen im Lande, die Möglichkeit, das polnische Fernsehen in Wilna zu 
empfangen - all das führt zur sprachlichen Unifizierung. Vielleicht erwartet die 
polszczyzna kresowa dasselbe Schicksal wie das der Kresy - vielleicht wird sie 
ebenso zum Mythos? 
Wie lebendig dieser Mythos auch heute noch ist, zeigt das soziolinguistische 
Phänomen einer politischen Bewegung der jüngsten Wendejahre. Eine Gruppe, 
die sich, was ihre Nationalität anbetrifft, als „slawischsprachige Litauer“ 
17 So auch der Titel des Debütromans von Tadeusz Konwicki. 
1 ^ Auch der Name eines Dichterkreises in Wilna, dem Czeslaw Milosz angehörte. 
Zu ähnlichen Ergebnissen hat meine Umfrage unter Polonistikstudenten am Wilnaer 
Pädagogischen Institut im Jahre 1990 geführt - vgl. Nagörko 1992. 
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