bedeuteten ein Ende für bestimmte national und sozial geprägte Kultur¬
varietäten. Im Fall von Polen ist umstritten, ob der polnische Kulturdialekt, die
gesprochene Variante, vom Landadel und der städtischen Intelligenz benutzt,
noch weiter existiert (siehe Kurzowa 1993 - darauf komme ich noch zurück).
Besonders markant ist das Schicksal der jüdischen Kultur. Nach den Teilungen
Polens, als die Gebiete des ehemaligen Großfürstentums Litauen an das
Zarenreich gefallen waren, befand sich in den Grenzen dieses Imperiums die
größte Ansammlung von Juden in ganz Europa. Die vom Zarismus festgelegte
östliche Ansiedlungsgrenze trug dazu bei, daß Städte und Städtchen von
Weißrußland und der Ukraine zu jüdischen sztetl wurden. Übervölkert und arm,
waren sie zugleich Orte der kulturellen und religiösen Gärung, des Streites
zwischen dem Chassidismus und der Orthodoxie der Rabbiner aus Wilna8 (das
Jerusalem des Nordens genannt), innerhalb des Schrifttums zwischen Hebräisch
und Jiddisch. Ein Großteil der jüdischen Intelligenz hatte sich, zumindest was
die Sprache betrifft, russifiziert, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, daß
sie ihre Ausbildung an russischen Gymnasien und Universitäten genossen hat.
Viele von ihnen zierten später die russische Literaturgeschichte. Aus den
ehemaligen Kresy der polnisch-litauischen Adelsrepublik stammen hervor¬
ragende russische Dichter und Denker des XX. Jahrhunderts wie Ossip
Mandel’stam, Boris Pasternak, Lev Sestov und Joseph Brodsky.
Czeslaw Milosz bemerkt dazu:
„Kiedy zaczyna sie emigracja na Zachöd, The Russian Jew, wcale nie z
Rosji samej, bo go tarn nie bylo, tylko z Wilna, Miriska, Witebska,
Kijowa, b?dzie pospolitym okresleniem niezliczonych amerykariskich
uczonych, literatöw, muzyköw, wydawcöw i aktoröw“ (Milosz 1992, S.
28). [„Wenn die Emigration nach Westen beginnt, wird The Russian Jew,
gar nicht aus Rußland selbst kommend, weil es ihn dort nicht gab, sondern
aus Wilna, Minsk, Witebsk, Kiew, eine gewöhnliche Bezeichnung für
zahllose amerikanische Gelehrte, Schriftsteller, Musiker, Verleger und
Schauspieler“]
Diejenigen, die nicht emigrierten, haben versucht, vor Ort als jüdische
Schriftsteller russischer Sprache zu wirken, wie z.B. Grigorij Kanowic. (Sein
Roman unter dem vielsagenden Titel Свечи на ветру [Kerzen im Wind] wurde
auch ins Polnische übersetzt.) Kanowic gehört zu den Autoren, die in ihren
Werken der Muttersprache nicht treu geblieben sind, wenn auch die im Roman
Nach der von Deutschen durchgeführten Volkszählung im Jahre 1916 haben von den 140
840 Einwohnern in Wilna 50,15% Polnisch als ihre Muttersprache angegeben, 43,50%
Jiddisch, 2,60% Litauisch und geringe Prozentsätze Russisch, Weißrussisch und Deutsch
(zitiert nach Milosz). Diese - als objektiv geltenden - Angaben weichen nur gering von
den aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg stammenden polnischen Zahlen ab. Laut
Swiechowski (1917) zählte Wilna im Jahre 1912 53,5 % Polen, 40,2 % Juden und 4,9 %
Russen .
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