• Eine historische Tatsache ist, daß die Ostrandgebiete immer wieder kleiner
wurden und sich in Richtung Westen verschoben haben. Nach dem ersten
Weltkrieg hat man im wiedergeborenen Polen, das immer noch ein Viel¬
völkerstaat war, zwischen den neuen Ostrandgebieten und den alten Kresy
(deren Zentrum in Kiew war) unterschieden: Es waren die Randwoiwod¬
schaften Wilna, Nowogrudok (Nowogrödek), Polesien (Polesie), Wolhynien
(Wolyn), Tamopol, Lemberg (Lwow) und Stanislawow (Stanislawöw) (vgl.
Jasinowski 1936, S. 220). Diese Territorien sind heute schon historische Kresy.
Die Bezeichnung selbst ist in Bezug auf moderne politische Verhältnisse
anachronistisch, obwohl sie von manchen Linguisten immer noch in Form eines
bequemen Agglomerats polszczyzna kresowa benutzt wird. Der offensichtliche
Polonozentrismus dieser Bezeichnung ist für Angehörige anderer Nationalitäten
- für Weißrussen, Ukrainer und Litauer - nur schwer zu akzeptieren, weil sie
dadurch zu Bewohnern eines Hinterlandes, einer Peripherie, herabgemindert
werden.
• Genauso wie der Raum wird auch die Kategorie der Zeit in Kresy mytholo¬
gisiert. Es ist eine stehengebliebene, verlangsamte Zeit ohne Ereignisse, ohne
Fortschritt (vgl. bei St.Vincenz: „Czas bez zdarzeñ, bez post^pu“, in: Na
wysokiej poloninie, S. 508).5 * Die A>e.ry-Kultur versetzt uns in eine phantasti¬
sche Zeit des heidnischen Litauen. Sie erinnert an heidnische Priester, Krive-
Krivejte,^ Bräuche wie Dziady ,Totenfeier4, „heidnische“ Vornamen wie Ausra
(Morgenstern), Laima (Göttin des Schicksals, vgl. laime ,Glück4), Gintaras
,Bernstein4 u.ä., die heute in Mode sind. In polszczyzna kresowa dagegen haben
wir viele Archaismen, die nur dort ihr Leben weiter führen. Den literarischen
Geschmack des polnisch lesenden Publikums bestimmt weitgehend immer noch
Adam Mickiewicz, der Kultdichter vieler Schreibender in Wilna, die von einem
Platz neben ihm in der Literaturgeschichte träumen. Dieser Umstand kann am
ehesten einfach als Provinzialismus bewertet werden. Trotzdem ist die
romantische Legende um Mickiewicz ohne den genius loci von Wilna nur
schwer zu verstehen.7
• Aus der gegenwärtigen Perspektive ist es nicht nur eine Zeit, die stehen
geblieben ist: für viele Ethnien dort ist es auch eine abgeschlossene Zeit. Die
Ermordung der Juden in Ponarai (bei Wilna), die Massenemigration von Polen
sowie die Deportationen des Adels nach Sibirien (vgl. Czemiakiewicz 1987)
Zit. nach Czaplejewicz 1996, S. 19.
Einer von ihnen, namens Lizdejko, war der legendäre Ahnherr der Familie Radziwill
(siehe Cat-Mackiewicz 1990, S. 18). Bemerkenswert ist, daß der Name eines heidnischen
Priesters überhaupt bis in unsere Zeit überdauert hat. Dies hängt natürlich damit
zusammen, daß die Taufe in Litauen erst im Spätmittelalter eingeführt wurde.
Der bis vor kurzem getrennte litauische und polnische Kult um den Dichter scheint sich
zu vereinen. In der neu eingerichteten Konrad-Zelle beim unierten Basilianerkloster, wo
der junge Mickiewicz und seine Mitverschworenen auf Befehl von Novosil’cev
eingesperrt waren und die später in Dziady literarisch verewigt wurde, werden jetzt
gemeinsame literarische Lesungen veranstaltet.
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