Das erste Problem: Was heißt eine „sprachliche Minderheit“ am Beispiel
Südtirol?
Für die Provinz Bozen haben wir seit 1910 immer — auch zu Zeiten der fa¬
schistischen Italianisierung - ein Übergewicht, eine sprachliche Mehrheit des
deutschsprachigen Bevölkerungsanteils: 1910 89 %; 1921 76 %; 1961 62 %;
1991 65 %. Das ändert sich, wenn wir nicht die Provinz Bozen, sondern die
Region Trentino-Südtirol zugrunde legen. Als 1948 das erste Autonomiestatut
für die Region Trentino-Südtirol-Alto Adige in Kraft trat, waren die beiden
Provinzen Trient und Bozen mit einem regionalen Parlament und einer
Regionalregierung zusammengeschlossen; die Abgeordneten aus Südtirol be¬
fanden sich hier in der Minderheit und konnten nach Belieben überstimmt wer¬
den. Dies ist der Hauptgrund der Differenzen hinsichtlich des Abkommens De
Gasperi-Gruber, das 1969 zum Pacchetto führte, zum zweiten Autonomiestatut
von 1972. Den beiden Provinzen wurden weitgehende Rechte gegeben, der
Stellenproporz wurde vorgeschrieben. Aber erst nach entsprechenden
Ausführungsbestimmungen, seit 1992, ist der Streit mit Österreich endgültig
beigelegt.
Heutige Probleme: Problematik des Sprachengebrauchs vor Gericht, bei Behör¬
den; ethnischer Proporz, Problem einer Universität in Bozen; Abschaffung der
Institution Region (Trentino-Südtirol); Motto: Los von Trient.
Seit 25 Jahren gibt es den vorgeschriebenen ethnischen Proporz. Noch 1981
äußerte sich Kramer etwas skeptisch: „Man läßt lieber eine Stelle freistehen, als
sie mit einem Angehörigen der »falschen4 Volksgruppe zu besetzen.“ „Diese
Haltung macht sich besonders im Gesundheitswesen bemerkbar, es gibt längst
nicht genug Ärzte und Pfleger mit dem Zweisprachigkeitszeugnis, man läßt
aber lieber die Stellen leerstehen als Ausnahmen zuzulassen.“
Zweisprachigkeitsprüfungen kann man auch übertreiben. Für den mittleren und
gehobenen Staatsdienst sind sie selbstverständlich berechtigt; für Reinmache¬
dienste (für die früheren Putzfrauen) scheint mir die Zweisprachigkeit als
Voraussetzung einer Einstellung etwas übertrieben.
Angesichts der Omnipräsenz der Zweisprachigkeit im öffentlichen Dienst
scheint mir auch die sogenannte Zweisprachigkeitszulage als Belohnung für die
Kenntnis beider Sprachen nicht mehr zeitgemäß zu sein, weil auch in anderen
Berufssparten (Privatwirtschaft) die Beherrschung beider Sprachen als Ein¬
stellungsvoraussetzung selbstverständlich ist.
Zweites Problem: Gleichheits- und Gerechtigkeitsüberlegungen bei der
Förderung von sprachlichen Minderheiten
In der Provinz Bozen gibt es nicht nur deutschsprachige und italienischspra¬
chige Einwohner, sondern auch Ladiner: 1910 3,8 %; 1921 3,9 %; 1961 3,4 %
(12 594); 1991 4,2 % (18 434). Dies ist einmalig: Im Friaul und in
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