Full text: Grenzkultur - Mischkultur?

Die Sonderstellung der Grenzgebiete beeinflußt natürlich auch die Wahr¬ 
nehmung, und zwar vornehmlich diejenige der Bevölkerung in diesen Gebieten. 
So spricht man etwa in Lothringen von „France de l’intérieur“, wenn man sich 
auf das übrige Frankreich bezieht, und im Saarland ist vom „Reich“ die Rede, 
wenn andere Bundesländer gemeint sind. Es ist aber nicht nur die Wahr¬ 
nehmung, die spezifisch ist, sondern auch die Lebensformen sind es. Alle diese 
Faktoren tragen dazu bei, daß sich besondere Formen von Kultur herausbilden. 
Das Andersartige dieser Kultur wird dann oftmals stilisiert und gleichsam 
mythisch überhöht. Das bekannteste Beispiel dafür ist der „Frontier-Mythos“ 
im amerikanischen Westen, der insbesondere dank der amerikanischen Film¬ 
industrie weltweit bekannt wurde. Sein östliches Gegenstück in Europa wäre 
etwa der „Kosaken-Mythos“, der sich in Polen bzw. Rußland herausbildete und 
ebenfalls bis heute nachwirkt. Auf den Tagungsort bezogen, ließe sich auf das 
Schlagwort vom „saarvoir vivre“ verweisen, welches die saarländische Touris¬ 
muswerbung propagiert. 
Wenn es denn diese besondere Ausprägung von Kultur gibt, die man als 
Grenzkultur bezeichnen kann, stellt sich die Frage, ob es sich hier tatsächlich 
um eine Mischkultur handelt oder nicht vielmehr um eine besondere 
Ausprägung der in Nicht-Grenzgebieten anzutreffenden Kulturformen. Ersterer 
Fall wäre dann anzunehmen, wenn in der Grenzkultur klar erkennbare Anteile 
von Kulturen ausgemacht werden können, die anderswo Vorkommen. Dabei 
lassen sich zwei Möglichkeiten unterscheiden: die Anteile anderer Kulturen 
stammen von der anderen Seite der Grenze (man könnte dann von einer 
grenzüberschreitenden Mischkultur sprechen) oder nicht (interne Mischkultur, 
die durch die zugezogenen Bevölkerungsgruppen entsteht). Auch Mischungen 
der beiden Möglichkeiten sind wohl anzunehmen. Letzterer Fall ist dann 
gegeben, wenn die Spezifik der Grenzkultur nicht auf solche Einflüsse 
zurückgeführt werden kann, also keine Parallelen zu den in Frage kommenden 
anderen Kulturen festzustellen sind. 
Es war Ziel des Symposiums, dieser Frage nicht abstrakt nachzugehen, sondern 
sie anhand konkreter Einzelbeispiele zu überprüfen. Die Zeit war dafür 
insofern günstig, als der Begriff der Mischung auf kulturellem Gebiet in den 
letzten Jahren eine Aufwertung erfahren hat. Während ursprünglich kulturelle 
Mischung als selbstverständlich gesehen wurde (man denke etwa an das 
Nebeneinander von Griechisch und Latein im Altertum oder an die „Inter¬ 
nationalität“ der höfischen Kultur), gab es insbesondere ab dem 18. und am 
stärksten im 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestrebungen, 
die „Reinheit“ der Kultur zu propagieren. Jeglicher Form von Mischung haftete 
der Makel der Minderwertigkeit an. Seither hat wieder ein „Paradigmen- 
Wechsel“ stattgefunden, und die Multi- (Inter-, Trans-)Kulturalität steht im 
Mittelpunkt forschenden Interesses, scheint auch positiv besetzt zu sein: das 
Postulat der „Hybridität“ von Kulturen ist an die Stelle der „Reinheit“ getreten. 
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