Die literarische Wiederentdeckung der sogenannten Volksbücher um die Wende des 18.
Jahrhunderts galt zunächst als eine Rückwendung zum Mittelalter. Für Herder, Goethe
und die Romantiker war das 16. Jahrhundert die repräsentative Epoche ‘altdeutscher’ Li¬
teratur und Kunst — das Mittelalter im heutigen Sinn fand kaum ihr Interesse. Wenn
Tieck, die Brüder Schlegel, Dorothea Schlegel und die späteren Herausgeber von Volks¬
buchsammlungen (Schwab, Marbach, Simrock und Aurbacher) die Prosaromane bearbei¬
teten und neu herausgaben, hielten sie sich für Vermittler mittelalterlicher Texte.
1805 veröffentlichte Friedrich Schlegel ‘Lother und Maller. Eine Rittergeschichte. Aus ei¬
ner ungedruckten Handschrift bearbeitet und herausgegeben von Friedrich Schlegel /
Frankfurt am Main, bei Friedrich Wilmans’. Nach der Rückkehr von Paris im Jahre 1804
gingen Friedrich und Dorothea Schlegel auf Empfehlung der Brüder Boisserée nach
Köln. Dort fand Schlegel in der Bibliothek der Diözesankirche ein spätmittelalterliches
Manuskript des später im Druck veröffentlichten Prosaromans aus dem Umkreis der
Karls-Gesten. In seiner knappen Vorrede berichtet Schlegel von einer Nachricht am Ende
des Manuskripts: Margarete, Gräfin von Wiedemont und Herzogin zu Lothringen habe
dieses Ritterbuch auf französisch „verfaßt“. Ihre Tochter Elisabeth, Gräfin zu Nassau-
Saarbrücken, habe das Werk 1437 ins Deutsche übersetzt. Eine heute in dem Manuskript,
das in der Diözesan-Bibliothek in Köln aufbewahrt wird, nicht mehr vorhandene Einlei¬
tung hat Schlegel erwähnt. Darin habe Margarete behauptet, nach einer lateinischen Quel¬
le gearbeitet zu haben. Diese Behauptung gehörte zu den Topoi spätmittelalterlicher
Handschriften zur Sicherung historischer Verläßlichkeit, war allerdings wie meist Erfin¬
dung. In der Vorrede deutet Friedrich Schlegel immerhin an, warum dieser Prosaroman
neu herausgegeben werde: Neben der verdienstvollen Erfindung und „manches Eigen¬
tümlichen in der Darstellungsart, war es vorzüglich das darin aufgestellte Bild der ritterli¬
chen Freundschaft, was den Herausgeber bestimmte, diesen Roman der Vergessenheit zu
entreisen; und nach diesem Gesichtspunkte ist auch der Auszug gemacht worden. Manche
Fehden und Abenteuer, besonders gegen das Ende des Buchs, die von der Art sind, wie
sie in allen Rittergeschichten Vorkommen, hat man deshalb weggelassen“. Das kleine
Buch sei als Nachtrag zu der ‘Sammlung romantischer Dichtungen des Mittelalters’ zu be¬
trachten, wovon bereits zwei Bände erschienen seien — weitere sollten folgen56.
Das literarisch wertvollste Rezeptionszeugnis findet sich in Achim von Arnims Roman
‘Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehr¬
reichen Unterhaltung armer Fräulein’, zwei Bände. Berlin 1810. In der Szene, in der die
Geschichte von Hug Schapler erzählt wird, unterhalten sich die beiden verarmten Töchter
des Grafen P., der vor seinen Gläubigern in ferne Länder entflohen und verschollen ist.
Graf Karl, ein Student, wählt sich später unter den beiden Schwestern die kokette Dolo¬
res. Die fromme Klelia heiratet den Markese D., den Inbegriff libertiner adliger Lebens¬
weise im Stil des Ancien régime. Bevor die beiden ihre Ehepartner finden, sprechen sie
immer wieder über Liebe und Ehe und die Gefahren einer Mißheirat. Klelia hat die
56 Schlegel, Friedrich; Sammlung von Memoiren und romantischen Dichtungen des Mittelalters aus altfränkischen und
deutschen Quellen, eingeleitet und hrsg. von Liselotte Dieckmann, Paderborn/ München/Wien/Zürich
1980, S. XXVf., S. 453 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. 33. Band, 3. Abtlg.).
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