Full text: Zwischen Deutschland und Frankreich

Die Indienststellung der epischen Überlieferung für die nationale Traditionsbildung läßt 
sich in Burgund gut beobachten.66 Bekanntestes Beispiel ist der 1447 für Herzog Philipp 
den Guten fertiggestellte ,Girart de Roussillon', das sogenannte burgundische National¬ 
epos, erhalten in einer Handschrift, die als eines der Meisterwerke flämischer Buchmalerei 
gilt.67 Ein vergleichbares Beispiel historischer Rückbesinnung am burgundischen Hof ist 
die nach 1455 entstandene Prachthandschrift der „Chroniques de Jérusalem“,68 eine Ge¬ 
schichte der Kreuzzüge, die mit den Kreuzzugsplänen des Burgunderherzogs69 in Verbin¬ 
dung steht. 
Damit aber sind wir zu dem anfänglichen Hinweis auf die Bildteppiche mit Perceval- 
Motiven, die als Beleg für die französische und burgundische Ritterrenaissance angeführt 
wurden,70 zurückgekehrt. Löst man sich von dem Begriff, der, wie ich zu zeigen versucht 
habe, in seiner weiten Fassung in die Irre führt, so bleibt als wichtige Einsicht die Beob¬ 
achtung, daß historisch-literarische Traditionsbildung, die Suche nach dem Herkommen, im 
Laufe des 15. Jahrhunderts im Rahmen der ritterlich-höfischen Kultur immer mehr an 
Bedeutung gewann. Elisabeth steht, wenn man ihre Texte als „Herkommen“ verstehen 
will, allerdings eher am Anfang dieser Entwicklung. 
Verstärkt hat sich aber auch die Wechselwirkung zwischen der Literatur und der politisch- 
kulturellen Praxis. Allerdings war man in Deutschland im 15. Jahrhundert doch recht weit 
entfernt von einer solchen Durchdringung der aristokratischen Kultur mit fikdonaler Lite¬ 
ratur, wie sie in Frankreich und Burgund üblich war.71 Um nur ein Beispiel zu nennen: In 
der Festkultur der deutschen Höfe sind historisierende Elemente, etwa das Auftreten lite¬ 
rarischer Gestalten oder historisch kostümierter Teilnehmer, vor der Zeit Maximilians, 
wenn ich recht sehe, nicht anzutreffen. 
66 Vgl. Lacaze, Yvon: „Le rôle des traditions dans la genèse d’un sentiment national au XVe siècle. La 
Bourgogne de Philippe Le Bon“, in: bibliothèque de l’École des chartes 129 (1971), S. 303-385. 
(r Thoss, Dagmar: Das Epos des Burgunderreiches Girart de Bous sillon, Granz 1989. Vgl. auch Scholz-Williams, 
Gerhild: „Girart de Roussillion: Epos und Historie im Dienste Burgunds“, in: ULä 18 (1988), H. 70, S. 
54-69. 
68 Vgl. Thoss, Dagmar: Flämische Buchmalerei. HandschriftenschäQe aus dem Burgunderreich, Graz 1987, S. 34-37 
Nr. 4. 
69 Vgl. Müller, Heribert: Kreu^pugspläne und Kreu^pugspolitik des Herzogs Philipp des Guten von Burgund, Göttin¬ 
gen 1993. 
7(1 Die neuere kunsthistorische Forschung zur burgundischen Kunst hat sich von dem Konzept „Ritterro¬ 
mantik“ jedoch entschieden distanziert, vgl. Franke, Birgit: „Ritter und Heroen der ,burgundischen Anti¬ 
ke1. Franko-flämische Tapisserie des 15. Jahrhunderts“, in: Stadel-]ahrbuch NF 16 (1997), S. 113-146, hier 
S. 113. Abgelehnt wird das Konzept „Romantik“ bzw. „Nostalgie“ als Erklärung der geistigen Kultur 
Burgunds ebenfalls von Vanderjagt, Johan, Arie: Qui sa vertu anoblist. The Concepts of noblesse and chosepubhc- 
que in Burgundian Political Thought, Diss. Groningen 1981, S. 25 und öfter. 
71 Vgl. Keen, Maurice: Das Rittertum, Reinbek 1991, S. 311, 329f. Zur burgundischen Festkultur vgl. Franke, 
Birgit, „Feste, Turniere und städtische Einzüge“, in: Kunst der burgundischen Niederlande. Fine Einführung, 
hrsg. von Franke, Birgit / Welzel, Barbara, Berlin 1997, S. 65-84. 
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