Die ‘Königin Sibille’ der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und das
Problem des Bösen im postarthurischen Roman.
Walter Haug
Elisabeth von Nassau-Saarbrücken ist mit etwa 40 Jahren bei der Lebenserwartung ihrer
Zeit schon eine recht reife Dame, als sie vor 1437 anfängt, Literatur zu machen, d.h. fran¬
zösische Versepen in deutsche Prosa umzusetzen1. Man möchte meinen, sie hätte Dringli¬
cheres zu tun gehabt, denn ihr Mann ist 1429 gestorben und hat sie mit zwei unmündigen
Söhnen allein gelassen. Er war, wie damals in seinen Kreisen üblich, in vielfache Fehden
verwickelt gewesen, und das hätte bedrohlich werden können. Doch Elisabeth gelingt es
mit Geschick, aus ihnen herauszukommen und das Erbe für ihre Kinder zu sichern2. Das
dürfte nicht wenig Mühe gekostet haben in den politischen Ränkespielen der Region, im
Grenzgebiet französischer und deutscher Herrschaftsbereiche und in der Endphase des
Hundertjährigen Krieges, sowie angesichts all der übrigen Schrecken, die die Zeit bereit¬
hielt. Wozu also macht eine adelige Witwe in einer solchen Situation Literatur?
Man kann auf diese Frage selbstverständlich eine allgemeine Antwort geben und sagen,
volkssprachliche Literatur an Adelshöfen sei spätestens seit dem hohen Mittelalter eine
Prestigeangelegenheit gewesen. Man feierte sich selbst durch die Pflege der Künste. Bur¬
gund, der Hof Philipps des Guten, war im frühen 15. Jahrhundert ein eindrucksvolles
Vorbild in nächster Nähe. Im übrigen war Elisabeth am Hofe ihrer Eltern, Friedrichs von
Lothringen und Margarethes von Vaudémont-Joinville, in einem ausgesprochen literari¬
schen Klima aufgewachsen. Über ihre Mutter vor allem dürfte sie mit der französischen
Literaturtradition vertraut geworden sein. Im Nachwort ihres ‘Loher und Maller’ heißt es,
daß die Mutter die französische Vorlage habe abschreiben lassen, die sie, Elisabeth, dann
ins Deutsche übersetzte. Der Bruder Antoine hat mit Gedichten zum regen literarischen
Leben am Hof des Herzogs Charles von Orléans beigetragen. Auch König René d’Anjou,
seit 1431 Herzog von Lothringen und mit Elisabeths Cousine verheiratet, war literarisch
tätig; er hat u.a. einen allegorischen Roman, den ‘Livre du euer d’amours espris’, geschrie¬
ben3. Man darf also wohl annehmen, daß Elisabeth diese familiär vertraute literarische
Kultur in den deutschen Sprachraum übertragen wollte, vielleicht insbesondere für ihre
Söhne. Jedenfalls hat ihr Sohn Johann dann illustrierte Prachtausgaben ihres Romanwerks
1 Zu den Lebensdaten und -umständen vgl. Steinhoff, Hans Hugo: „Elisabeth von Nassau-Saarbrücken“,
in: Verfasserlexikon 2 (1980) Sp. 482-488, hier: Sp. 482. 1437 ist das Entstehungsdatum des Loher und
Maller’; er ist ihr drittes Werk. Der Beginn der Übersetzertätigkeit dürfte also etwas früher anzusetzen
sein. Vgl. auch den Beitrag von Hans-Walter Herrmann in diesem Band S. 120f.
2 Siehe ‘Huge Scheppel’ / ‘Königin Sibille’. Übertragen aus dem Französischen von Flisabeth von Vassau-Saarbrücken,
Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 12. in scrinio. Farbmicrofiche-Edition. Einführung
zum Text und Beschreibung der Handschrift von Jan-Dirk Müller (Codices illuminati medii aevi 26),
München 1993, S. 19f.; Wolfgang Haubrichs: „Die Kraft von franckrichs wappen. Königsgeschichte und
genealogische Motdvik in den Prosahistorien der Elisabeth von Lothringen und Nassau-Saarbrücken“, in:
Deutschunterricht (1991/4) S. 4-19, hier: S. 5.
3 Haubrichs (wie Anm. 2), S. 5.
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