Die weitgehend unproblematischen, spielerisch-unterhaltsamen Momente scheinen insge¬
samt die Saarbrücker Texte stärker zu dominieren als auf Schwierigkeiten welcher Art
auch immer reagierende eskapistische Tendenzen - seien sie nun durch einen angeblich
zunehmenden Funktionsverlust des ehemals mächtigen Adels oder durch drückende zivi¬
lisatorische Zwänge ausgelöst. Daß dieses augenscheinlich große narrative Potential der
Texte häufig übersehen oder gar geleugnet wurde, erst neuerdings stärker in den Vorder¬
grund rückt35, dürfte im wesentlichen auf zwei Ursachen zurückzuführen sein. Zum einen
hat die anfangs bereits angesprochene, früher allgemein geläufige Vorstellung des ausge¬
henden Mittelalters als einer Zeit krisenhafter Verwerfungen und eines generellen Nieder¬
gangs dazu beigetragen, zugleich die zeitgenössischen literarischen Produkte a priori als
Dekadenzphänomen zu sehen und deren erzählerische Qualitäten auszublenden. Darüber
hinaus dürfte, zweitens, die Gattung, zu der die Elisabeth zugeschriebenen Prosatexte ih¬
ren Ursprung nach gehören, einen gewichtigen Anteil daran besitzen, daß deren erzähleri¬
sche Qualitäten lange eher als marginal betrachtet wurden. Gilt doch die französische
Heldenepik zumeist als archaisches, in eine frühe Phase der Feudalität zurückweisendes
Genre, dessen narratives Potential, ausgehend vom vermeintlichen Prototyp ‘Rolandslied’,
im allgemeinen als eher bescheiden eingeschätzt wird — wohl zu Unrecht, wie an anderer
Stelle gezeigt werden soll. Hier kann nur angedeutet werden, daß die Wirkungs- und Re¬
zeptiongeschichte der Chanson de geste ungleich erfolgreicher war, als z.B. die des im
Bewußtsein der (germanistischen) Forschung sehr viel stärker präsenten und höher ge¬
schätzten Artusromans. Während die arthurische Stofftradition die Hürde des Buchdrucks
in Frankreich wie in Deutschland aber nur mit Mühe überwand, fanden Chanson de ges-
te-Bearbeitungen noch weit bis ins 18. Jahrhundert hinein ihr Publikum — in Deutschland
in Form der sogenannten Volksbücher, in speziellen französischsprachigen Refugien in
Gestalt der Bibliothèque bleue sogar bis ins 20. Jahrhundert36. In der Stoffwahl wie in der
Ausschöpfung des seit dem 12./13. Jahrhundert bereits angelegten, im Laufe der Gat¬
tungsentwicklung immer weiter entwickelten erzählerischen Potentials der Chanson de
geste erweist sich demnach vielleicht sogar am deutlichsten der zu Beginn erwähnte, zwi¬
schen Mittelalter und Neuzeit changierende Übergangs Charakter von ‘Herpin’, ‘Sibille’,
‘Loher und Maller’ und ‘Huge Scheppel’.
35 Zu den komisierenden Effekten übertriebener Grausamkeit in den Elisabeth zugeschriebenen Prosatex¬
ten vgl. Haug, Walter: „Huge Scheppel - Der sexbesessene Metzger auf dem Lilienthron. Mit einem klei¬
nen Organon einer alternativen Ästhetik für das spätere Mittelalter“, in: Wolfram-Studien XI (1989), S.
185-205 sowie die Einleitung durch Ute von Bloh in: Historie von Herzog Herpin (Anm. 1). Speziell zur Re¬
zeptionsgeschichte der Elisabeth zugeschriebenen Texte vgl. Konczak, Ralf: Studien %ur Druckgeschichte
zweier Romane Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. „Hoher und Maller“ und „Herpin Frankfurt a. M. u. a. 1991
(Europ. Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1273); Bichel, Peter: Hug-Schapler-Überlieferung und Stilwandel. Ein
Beitrag c(um Erühneuhochdeutschen Prosaroman und 7yur lexikalischen Paarform, Bern u. a. 1999 (Züricher Germa¬
nistische Studien 53).
36 Vgl. die Zusammenstellung des Materials zur deutschen Druckgeschichte bei Gotzkowsky, Bodo:
‘ Volksbücher’: Prosaromane, Renaissancenovellen, Vers dich tungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Dru¬
cke. Teil I: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 1991. Zu entsprechenden französischen Dru¬
cken vgl. Cooper, Richard: ,,‘Nostre histoire renouvelée’: the Réception of tbe Romances of Chivalry in
Renaissance France“, in: S. Anglo (Hg.): Chivalry in the Renaissance, Woodbridge 1990, S. 175-238.
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