setzt habe. So konstatiert z.B. Ernst Schubert in einem neueren Forschungsresümee: „Das
spätmittelalterliche Fürstentum ist selbst bei großzügigster begrifflicher Auslegung noch
kein Staat. Weder gibt es einen Untertanenverband noch ein Staatsgebiet, geschweige
denn Souveränität.“ Im Hinblick auf bestimmte Interpretationsmuster für die Elisabeth
zugeschriebenen Prosahistorien scheint Schuberts Feststellung, daß die Auffassung von
der fürstlichen Machtausübung als Kristallisationspunkt späterer Staatsgewalt fragwürdig
sei, besonders wichtig. Denn die Wege, die schließlich zur Ausbildung des modernen
Staates führten, wurden nach Schubert „im 15. Jahrhundert nur zögernd eingeschlagen,
ohne das Ziel in erreichbarer Nähe zu sehen.“14 Durch Druck von fürstlicher oder staatli¬
cher Seite mag demnach zwar der politische, ökonomische oder militärische Handlungs¬
spielraum in Einzelfällen tangiert worden sein. Ob allerdings eine noch in der Zukunft
liegende Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols als primärer, kompensatorisch zu
verstehender Rezeptionshintergrund der körperliche Gewalt und Triebauslebung teilweise
stark betonenden Saarbrücker Prosahistorien aufgefaßt werden kann, darf bezweifelt wer¬
den.
Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang auch, daß gerade die Themen-
telder Kampf/Gewalt sowie Liebe/Sexualität einen integrativen Bestandteil des Typus
Chanson de geste bilden — der zweite Bereich zwar nicht im bekannten, aber eher gat¬
tungsuntypischen ‘Rolandslied’, dafür aber in so berühmten Werken wie Prise ‘d’Orange’,
‘Voyage de Charlemagne’, ‘Chanson d’Aspremonf, ‘Chanson des Saisnes’ und anderen.
Zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert riß die Rezeption dieser und ähnlicher Helden¬
epen im französischsprachigen Raum nie ganz ab15. Zumindest das — möglicherweise
durch Elisabeth vermittelte — Interesse des Primärpublikums an „sex and crime“-
Thematik ist am traditionell stark nach Westen orientierten Saarbrücker Hof demnach
wohl eher auf das Interesse an der Rezeption einer in Frankreich und Burgund gerade
während des 14. und 15. Jahrhunderts beliebten, in ihren narrativen Potentialen in der
(deutschen) Forschung zuweilen unterschätzten, französischen Gattung zurückzuführen,
als auf zeitspezifische, in der heraufziehenden Moderne gründende Befindlichkeiten des
Publikums. Vor einer zu einseitigen Auslegung bzw. zu starker interpretatorischer Ge¬
wichtung einiger durch Gewalt und unkontrollierte Affekte gekennzeichneten Passagen
der Saarbrücker Prosahistorien sollte zudem warnen, daß in sämtlichen Texten ebenfalls
Szenen begegnen, in denen unkontrollierter Gewaltbereitschaft und mangelnder Affekt¬
beherrschung durch besondere Techniken des Konfliktmanagements gerade entgegen
gewirkt wird oder scheinbar spontane Gewalt sich in Wirklichkeit als Ergebnis eines be¬
stimmten Regeln gehorchenden Konfliktverhaltens erweist. In der bisherigen Forschung
14 Schubert, Emst: Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, München 1996 (Enzyklopädie
deutscher Geschichte 35), S. 81 f.
15 Zur Rezeption der Chanson de geste zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert vgl. Duggan, Joseph J.: „Die
zwei »Epochen« der Chansons de geste“, in: Hans Ulrich Gumbrecht u.a. (Hgg.): Fpochenschmllen und
Fpochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/M. 1985, S. 389-408. Allgemein zum
literarischen Genre vgl. die instruktive Einführung von Suard, François: La chanson de geste, Paris 1993,
der auch die Typologie und die Rezeptionsgeschichte der Gattung behandelt.
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