Wolfgang Liepe - Erinnerung
Gerhard Sauder
In den historisch-hermeneutischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen ist die Kate¬
gorie ,Fortschritt fragwürdig. Gewiß gibt es auch in diesem Bereich der Wissenschaft ei¬
nen Zuwachs des Wissens durch die Entdeckung neuer Quellen und Fakten, vor allem
aber durch überraschende Lektüren von längst ,ausgelesenen4 Texten. Von einem unauf¬
haltsamen Fortgang des Wissensstromes und einer stetigen Anhäufung des Wissens im
Sinne des Fortschrittsglaubens, der im 19. Jahrhundert begründet wurde und weit in das
20. hineinreicht, kann jedoch nicht die Rede sein. Da es in unseren Disziplinen immer um
auslegungsbedürftige Texte geht und die Zeitmarke allen hermeneutischen Unterneh¬
mungen eingeschrieben ist, wird jeder Versuch der Vergangenheit, einen Text zu ver¬
stehen, zu einem Moment der Wissenschafts-, nicht unbedingt aber einer Fortschritts¬
geschichte. Der Fall ist selten, daß eine Habilitationsschrift vom Beginn des Jahrhunderts
so viele Einsichten erarbeitet hat, daß sie nicht nur in der Erschließung von Quellen, son¬
dern auch in den Grundlinien der Interpretation noch am Jahrhundertende für unentbehr¬
lich und notwendig erachtet wird.
Hans Joachim Kreutzer urteilt in seiner wissenschaftskritischen Untersuchung „Der My¬
thos vom Volksbuch“ (1977) über Liepes Darstellung: „Man besäße heute zumindest die
äußeren Voraussetzungen für ein Gesamtbild der im 15. und 16. Jahrhundert existie¬
renden Erzählwerke in Vers und Prosa, wenn diese Literatur mit ihren Entstehungs- und
Lebensbedingungen im Prinzip so erforscht wäre, wie das in Liepes Buch exemplarisch
für einen wesentlichen Bereich geschehen ist. [...] Die Arbeit von Liepe verbindet die Er¬
forschung der Überlieferung mit einer Würdigung der Texte im literarhistorischen Zu¬
sammenhang.“1 In Liepes Konzept des Prosaromans bleibt kaum noch Spielraum für
Vorstellungen vom ,Volksbuch4. Diese Tendenz war von Lutz Mackensen vor allem re¬
präsentiert worden. Seine Konzeption setzte sich in den zwanziger Jahren durch und
wurde durch „völkische“ Anschauungen bestärkt. In der Nachkriegzeit hat es bekanntlich
lange gedauert, bis diese Erblast erkannt wurde2. Von den Einwänden Liepes gegen die
popularisierenden ,Volksbuch‘-Thesen von Richard Benz, dessen Vorstellungen er „bibli¬
ophilen Dilettantismus“3 4 nennt, muß hier nicht ausführlich die Rede sein; Kreutzer hat die
wichtigen Positionen der Diskussion dargestellt4. Auch die heute notwendigen Korrek¬
1 Kreutzer, Hans Joachim: Der Mythos vom Volksbuch. Studien %ur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans
seit der Romantik, Stuttgart 1977, S. 131 f.
2 Vgl. Mackensen, Lutz: Die deutschen Volksbücher, Leipzig 1927, und Kreutzer (wie Anm.l), ebd.
3 Liepe, Wolfgang: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Entstehung und Anfänge des Prosaromans in Deutschland,
Halle a. S. 1920, S. 73.
4 Vgl. Kreutzer (wie Anm. 1), S. 124-130.
41