Full text: Zwischen Deutschland und Frankreich

Über die Entstehung dieser Gattung hat man vom Beginn des 19. bis in die fünfziger Jah¬ 
re des 20. Jahrhunderts höchst kontrovers diskutiert. Während die einen entschieden den 
Vorrang der mündlichen vor der schriftlichen Überlieferung betonten, setzten die anderen 
ebenso entschlossen auf die Überlegenheit der schriftlichen vor der mündlichen Traditi¬ 
on. Kleinere Preislieder auf aktuelle historische Ereignisse seien über Jahrhunderte hin 
anonym in stets anderen Fassungen weitergegeben worden, bevor sie zu den uns bekann¬ 
ten Chansons de geste verschmolzen, sagten die ,Traditionalisten*, während die ,Indivi¬ 
dualisten* den hochgebildeten und genialen Einzelautor postulierten, der den neuen nati¬ 
onalen Stoffen in einer „minute sacrée“ (Joseph Bédier) zeitlose poetische Form gab7. 
Eine Klerikernotiz aus dem nordspanischen Kloster San Millân de la Cogolla, die ,Nota 
emilianense*, machte 1953 allen Spekulationen ein Ende. Der dreißig Jahre vor dem ersten 
uns bekannten Gattungsbeispiel, der ,Chanson de Roland*, entstandene Text hielt nämlich 
alle wesentlichen Inhalte dieses Heldenliedes in holprigem, volkssprachlich infiziertem La¬ 
tein fest. Der Schreiber, der sich vielleicht bei seiner nicht gerade spannenden Kopistentä¬ 
tigkeit langweilte, hat damit den Beleg gegeben, daß bereits vor dem ,Roland d’ Oxford* 
die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tod Rolands - offensichtlich grenzüberschrei¬ 
tend - weitererzählt wurden, ohne daß man diese mündlich tradierten Fassungen schrift¬ 
lich fixierte8. 
Nun war dies gewiß ein Stoff, der bei seinem öffentlichen Vortrag durch die Spielleute 
mit größter Aufmerksamkeit rechnen konnte: Roland, der Neffe Karls des Großen, wird 
als Führer der Nachhut des fränkischen Heeres von seinem Stiefvater Ganelon an die 
Heiden verraten und fällt, begleitet von einem Naturszenario, das an den Kreuzestod 
Christi erinnert, in Roncevaux. Karl der Große aber stellt die göttlich bestimmte Ordnung 
wieder her. Er besiegt den als Antichristen gezeichneten Heidenkönig Baligant und läßt 
den Verräter Ganelon in Aachen grausam hinrichten. Am Ende des Epos erhält er durch 
den Erzengel Gabriel den Auftrag, in einen neuen Krieg gegen die Heiden zu ziehen. Der 
Text, der mit eindringlicher Schlichtheit den Gegensatz zwischen gut und böse inszeniert, 
befriedigt mit Dialogen, Kampfschilderungen und malerischen Ortsevokationen Unterhal¬ 
tungsbedürfnis und Neugier der Zuhörer, mit Traum- und Visionsberichten, mit Gebeten 
und ethischen Handlungsanweisungen deren Suche nach Erbauung und spiritueller Un¬ 
terweisung. 
Im Verlauf des 12. jahrhunderts werden die Darstellungen bestimmter Heldengestalten 
biographisch abgerundet und ausgeweitet. Hatten die Epen zunächst ein einzelnes oder 
brichs, Wolfgang: „‘Labor sanctorum’ und ‘labor heroum’. Zur konsolatorischen Funktion von Legende 
und Heldenlied“, in: Baufeld, Christa (Hg.): Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entste¬ 
hung deutscher Uteratur des Mittelalters und derfrühen Neuheit, Göppingen 1994, S. 27-49 (hier S. 41 ff.). 
7 Vgl. dazu allgemein Kloocke, Kurt: Joseph Bédiers Theorie über den Ursprung der Chansons de geste und die daran 
anschließende Diskussion \wischen 1908 und 1968, Göppingen 1972; das Zitat findet sich im dritten Band von 
Bédiers Legendes ¿piques, Bd. 3, Paris 31929, S. 448. 
8 Vgl. Alonso, Dámaso: „La primitiva épica francesa a la luz de una ‘Nota emilianense’“, in: Revista de Filo¬ 
logía Española 37 (1953) S. 1-94. 
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