sehen Literatur beginnt: die um 880 irgendwo zwischen Lüttich und Aachen entstandene
,Sequence de Sainte Eulalie*. Sie entwirft auf engstem Raum in Anlehnung an die Struktur
einer Heiligenlegende Leben, Leiden, Tod und Wunderwirkung Eulalias, die ihrem Glau¬
ben trotz heidnischer Drohungen treu geblieben war und deswegen enthauptet wurde:
Zum Lohn schwebt sie daraufhin „in figure de colomb [...] a ciel**4.
Dieser 1837 von Hoffmann von Fallersleben in der Bibliothek von Valenciennes wieder¬
entdeckte Text markiert deutlich zwei wesentliche Faktoren bei der Herausbildung einer
nationalsprachlichen Literatur in Frankreich. Erstens ist er sprachlich noch stark vom La¬
teinischen geprägt und zweitens ist sein Inhalt geistlicher Natur. Die Kirche in ihrem
Selbstverständnis als eigentliche Wahrerin der Schriftlichkeit gibt also den formalen und
inhaltlichen Rahmen der literarischen Rede vor. Dieser Zustand wird sich in den folgen¬
den zwei Jahrhunderten nur geringfügig ändern. Erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahr¬
hunderts entsteht mit der auf mittellateinischen Vorlagen beruhenden ,Vie de Saint Alexis*
ein Werk, das sich aufgrund bewußter rhetorischer Konzeption und Schlüssigkeit der
Handlungsabläufe deutlich von den voraufgegangenen volkssprachlichen Texten abhebt
und damit zugleich den formalen Zwängen der Liturgie entzieht. Die spröde Intensität
der Darstellung bestimmt die weitreichende Wirkungsgeschichte des Textes im romani¬
schen und im deutschsprachigen Bereich, auch über die literarische Rezeption hinaus, wie
Valdesius zeigt, jener reiche Lyoneser Bürger, den die exemplarische Entsagung des Heili¬
gen im Jahr 1174 zur Aufgabe seiner weltlichen Habe inspiriert und ihn damit zum Be¬
gründer der Waldenserbewegung werden ließ5.
Das Selbstbewußtsein der Volkssprache, das sich hier manifestiert, drückt sich noch un¬
gleich eindrucksvoller in einem neuen Genre aus: den Chanson de geste, mit einfacher
musikalischer Begleitung vorgetragene Lieder von Kriegstaten (lat. gesta), zunächst um
Gestalten aus der westfränkisch-französischen Geschichte, bald vielfach verzweigtes Er¬
zählwerk um historisch dokumentierte oder fiktive Aristokraten mit ihren Größen und
Schwächen, die sich für einen Souverän einsetzen oder sich gegen ihn empören, die, das
christliche Himmelreich vor Augen, den Heiden im heiligen Land die Hölle auf Erden be¬
reiten, aber sich auch im Kampf gegeneinander nicht gerade zimperlich verhalten: eine
Gattung, die ebenso aus dem Bedürfnis der Eeudalgesellschaft nach heroischen Identifika¬
tionsfiguren entsteht, wie aus jener Kreuzzugsmentalität, die die augustinische Vorstellung
vom gerechten Krieg* theoretisch rechtfertigte; ein Genre, das nach den Worten des Mu¬
siktheoretikers Johannes de Grocheo (um 1300) vorbildliche Verhaltensweisen demonst¬
rieren und eigene durch die Darstellung fremder Leiden erträglicher machen, aber auch
nach getaner Arbeit entspannen und unterhalten soll, um dadurch den Bestand des Ge¬
meinwesens zu sichern6.
4 Vgl. zum Text Henry (wie Anm. 3), S. 3.
5 Dazu Zink, Michel in: Poirion, Daniel (Hg.): Précis de littérature française du moyen âge, Paris 1983, S. 41 f.
6 Dazu Poirion, Daniel: „Chansons de geste ou épopée? Remarques sur la définition d’un genre“, in: Tra¬
vaux de Linguistique et de Uttérature 9 (1971), S. 7-20; siehe außerdem Fladt, Eüinore: Die Musikauffassung des
Johannes de Grocheo im Kontext der hochmittelalterlichen Aristoteles-Rezeption, München/Salzburg 1987; Hau-
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