Full text: Zwischen Deutschland und Frankreich

mente45 konstatieren, also bei (durchaus textsortenabhängigen) „individuelle [n] Konstan¬ 
ten des Sprachgebrauchs“46. Bei den hier vorliegenden Briefen ist aufgrund des Inhalts 
und der Funktion allerdings ein bestimmter Funktionalstil dominant, ebenso — bedingt 
durch die spätmittelalterlichen Schreibgrundsätze und Kanzleinormen - ein ganz charak¬ 
teristischer Epochen- oder Zeitstil47. Es handelt sich um einen geschäftlichen Briefwechsel 
im späten Mittelalter, bei dem zudem durch seine Ähnlichkeit mit dem hochgradig nor¬ 
mierten Fehdebriefwechsel kaum Spielraum für einen Individualstil bleibt, wie wir ihn 
heute verstehen würden. Das macht die Beurteilung der Briefe aus heutiger Sicht hinsicht¬ 
lich ihrer Individualität schwierig, da bei der Frage nach individuellen Zügen ebenso wie 
beispielsweise nach dem Grad der Höflichkeit48 nachträglich Maßstäbe angelegt werden, 
die voraussetzen, daß erstens den Schreibenden diesbezügliche Möglichkeiten überhaupt 
offenstanden und daß zweitens genügend Kenntnisse über die entsprechenden Normen 
der Zeit vorhanden sind. Hinzu kommt in diesem Fall die Autorenfrage, denn keiner der 
Briefe ist eigenhändig von Elisabeth geschrieben. 
An individuellen Zügen können in den Elisabeth-Briefen jedoch wie gezeigt auf der Aus¬ 
drucksebene folgende festgestellt werden: 1) bewußte Auslassung erwarteter Elemente, 
die den Brief im Ton verschärfen (z. B. Segensformeln); 2) Abwandlung von Formeln, de¬ 
ren Ab Wandlungsfähigkeit erkannt und zur feinen Nuancierung des Ausdrucks genutzt 
wird, was unter anderem an den nachträglichen Korrekturen ablesbar ist; 3) gezielte Aus¬ 
wahl und Kombination von performativen Verben und zugehörigen Modalangaben. 
Auf der Inhaltsseite scheint mir ein weiteres, deutliches Zeichen von Individualität zu 
sein, daß Elisabeth unterschiedliche Haltungen und Rollen einnimmt, um ihr Ziel zu er¬ 
reichen und ihre Interessen zu wahren. Sie variiert, um damit je nach Situation in feiner 
Abstufung demütig oder selbstbewußt zu bitten, leise oder ausdrücklich zu drohen oder 
höflich, aber bestimmt zu insistieren, was besonders in verschiedenen Briefen an densel¬ 
ben Adressaten deutlich wird. Dabei ist Elisabeth nicht in erster Linie durch ihre eigene 
Sprachkompetenz eingeengt und begrenzt, sondern durch Standesunterschiede, gesell¬ 
schaftliche Normen und solche des Kanzleiverkehrs sowie durch die Art und Entwick¬ 
lung der Konfliktsituation. 
Die differenzierte Rollenwahl scheint mir auch ein Indiz zu sein, daß Elisabeth einen 
deutlichen Einfluß auf die Abfassung der Briefe hatte, daß diese also nicht das alleinige 
Produkt des oder der betreffenden Kanzleibeamten sind. Denn die Art der Selbstdarstel¬ 
lung und Selbstbehauptung, wie sie in den Briefen bis in einzelne Formulierungen hinein 
deutlich wird, stimmt mit Elisabeths versöhnlich-diplomatischem Regierungsstil überein, 
der sich in dem Bemühen um gütliche Schiedsverfahren von dem offensiv-kriegerischen 
45 Sowinski, Bernhard: Stilistik. Stiltheorien und Stilanalysen, Stuttgart 1991 (Sammlung Metzler. Realien zur 
Literatur 263). S. 77. 
46 Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, 2., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 1993, S. 739. 
47 Sowinski: Stilistik (wie Anm. 45), S. 77. 
48 Janich: „Höflichkeit“ (wie Anm. 10), S. 108f 
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