Dieser zweifellos originellen, an der Literatursoziologie Lucien Goldmanns orientierten
These fehlt es — geprägt von einem eher ,naiven' Verständnis des komplexen Verhältnis¬
ses von Literatur und ,Wirklichkeit4 — leider an der Beweisbarkeit der Prämissen. Z. B.
kann keine Rede davon sein, daß die Aggressivität Huges im Laufe der ,Historie' ab¬
nimmt, oder auch, daß Elisabeth die kriegerische Aktivität und die körperliche, auch se¬
xuelle Vitalität ihres Helden mißbilligt hätte; wo sie streicht oder mildert, geschieht dies
bei Szenen, die — im Sinne von Norbert Elias64 — der Vorverlegung der Peinlichkeits¬
schwelle im höfischen Leben des späten Mittelalters und der stärkeren Privatisierung eini¬
ger Lebensbereiche nicht entsprachen. Es darf auch durchaus bezweifelt werden, daß sich
das politische Verhalten Elisabeths und ihres Sohnes Johann so deutlich von der voran¬
gegangenen Zeit und überhaupt vom Politikstil des späten Mittelalters unterscheidet, wie
Burchert annimmt65, ja ob seine Darstellung nicht „zumal bei dem fehdelustigen Johann
III. gründlich verzeichnet ist"66.
Schon in den Überlegungen zur literarischen Konturierung des Heldenbildes, zur Rolle
von Aggressivität und sexueller Vitalität im Verhalten der Protagonisten haben die sozial¬
geschichtlich orientierten Arbeiten mentalitätsgeschichtliche Felder berührt. Es sind die
neunziger Jahre, welche die Werke Elisabeths auch explizit zu ergiebigen Quellen der Su¬
che nach kulturellen Verhaltensmustern und Wertordnungen, nach geistigen Grundein¬
stellungen und Vorbedingungen des Handelns der Zeit werden lassen. Diese Arbeiten
sind durchweg mit dem Namen Ute von Blohs verknüpft.
Zwei Arbeiten zum ,Herpin' gehen — durchaus noch auf den Spuren Jan-Dirk Müllers
wandelnd — der den ,Prosaromanen' eigenen „Lust am Wunderbaren“67 und der „Rationa¬
lisierung des Wunderbaren“ in der Auseinandersetzung zwischen dem von der Neugierde,
der curiositas, gesteuerten Erfahrungswissen und dem Dogma, der ererbten Lehrmeinung,
nach68. Gut läßt sich diese Auseinandersetzung am Protagonisten Lew, dem Lion de Bour-
64 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., 4. Aufl., Bern 1977. Vgl. Haubrichs (wie Anm. 54),
S. 12.
65 Zur Kritik an Burchert vgl. z.B. die treffenden Bemerkungen bei Müller (wie Anm. 78), S. 21 Of. Anm.
17: „Doch ist vor schlichten ,Homologien4 zu warnen, die unterstellen, die Figuren im Epos ,verträten4
ständische Formationen in der Realität. Spekulativ bleiben Versuche, die Konstellation im Epos in eine
von den manifesten ständischen Charakterisierungen abweichende zu übersetzen, also im Verhältnis des
Königs Huge zum Hochadel und zur Stadt Paris eine Abbildung des Verhältnisses des Landesherrn von
Saarbrücken zu landständischem Adel und Bürgertum zu sehen. Derartige ,Übersetzungen4 isolieren ei¬
nige wenige Elemente, sind nicht kontrollierbar, daher beliebig.44 Ferner ebd. S. 213 Anm. 29; schließlich
sehr überzeugend von Bloh 1990 (wie Anm. 10), S. 21 ff. Vgl. auch Hans-Walter Herrmann in diesem
Band, S. 85f., 89.
66 Müller (wie Anm. 78), S. 213 Anm. 28.
67 Bloh, Ute von: „Die Rationalisierung des Wunderbaren. Text und Bild der Löwenepisode in Handschrif¬
ten und Drucken der ,Historie vom Herzog Herpin4“, in: Chloe. Beihefte ^ur Daphnis 20 (1994), S. 513-542,
hier S. 518.
68 Eine zweite Arbeit untersucht „das Wortfeld des Wunders und der Verwunderung ..., um den Mecha¬
nismen auf die Spur zu kommen, nach denen etwas in diesem Text als ein wunder erfahren wird“: Bloh,
Ute von: „Über Wunder, das Staunen und Erschrecken und über die Grenzen des Wirklichkeitsentwurfs
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