Wenige Monate nach der Belehnung durch den Kaiser stieg René in den ersten Rang von
Europas Fürstenhierarchie auf: Am 12. November 1434 starb sein älterer Bruder Ludwig
(III.); damit wurde René Oberhaupt einer Familie, die nach der regulären Erbfolge dem
Thron Frankreichs näherstand als die Burgunder, er übernahm die Herrschaft über das
Herzogtum Anjou sowie die Grafschaft Provence und obendrein auch noch den An¬
spruch auf die Krone des Königreichs Sizilien-Neapel158.
Für Philipp den Guten schien das ein Geschenk des Himmels zu sein. Am 26. März 1435
mußte der künftige König wieder in die Gefangenschaft zurückkehren, aus der er ja nur
unter bestimmten Bedingungen entlassen worden war159. Der aktuelle Anlaß für die
intransingente Haltung des Burgunders dürfte die Absicht gewesen sein, dem Schwager
König Karls VII. während der damals bevorstehenden Friedenskonferenz der drei am
Krieg in Frankreich beteiligten Parteien jede Möglichkeit zu nehmen, sich als vierte Macht
ins Spiel zu bringen. Der Kongreß von Arras führte am 6. September zum Bruch zwi¬
schen England und Burgund160 und am 21. September zum Frieden zwischen König Karl
VII. und Philipp dem Guten161. Der Fall des Anjou wurde in dem Vertrag nicht erwähnt.
Philipp der Gute war entschlossen, diese Angelegenheit nach seinen eigenen Vorstellun¬
gen zu regeln.
Eine flüchtige Lektüre des Vertrags von Arras vermittelt den Eindruck, Karl VII. habe
sich nahezu bedingungslos den Forderungen des Burgunders gebeugt:162 Nach vielen
Worten über die Schändlichkeit der Ermordung eines unschuldigen Fürsten folgen Erklä¬
rungen über die in Gestalt von teuren Stiftungen zu leistende Buße für das Verbrechen
und über beträchtliche territoriale Konzessionen des Königs, darunter auch solche in der
Champagne. Die für Karl VII. wichtigste Gegenleistung des Burgunders wird erst in § 28
verzeichnet, und das in negativer Form163: Herzog Philipp wird zeit seines Lebens nicht
gehalten sein, für die in seiner Hand befindlichen Länder und Herrschaften dem König
Lehnseid und Mannschaft zu leisten. Er bleibt vielmehr für seine Person exempt von je¬
der Unterwerfung, befreit von der Souveränität, der Oberherrschaft des Königs von
Frankreich. Das war sozusagen die spiegelnde Buße für den Mord von Montereau, der an
158 Vgl. z. B. Léonard, Émile G.: Les Angevins de Naples, Paris 1954, S. 485 ff. Zum folgenden: Mit der Über¬
nahme des Anspruchs auf das Königreich Sizilien gewann René einen eifrigen Fürsprecher, Papst Eugen
IV., der die Anjou gegen ihre Rivalen von Aragon unterstützte, vgl. Toussaint, Joseph: Les relations diplo¬
matiques de Philippe le Bon avec le Concile de Baie (1431-1449), Löwen 1942, bes. S. 153 ff.
159 Vgl. Mohr: Geschichte (wie Anm. 21), S. 78.
160 Zu Arras vgl. Vaughan: John the Fearless (wie Anm. 1), S. 98 ff. mit Literatur; Patze, Hans: Artikel „Arras,
Frieden von“ in: I^exAIA Bd. 1, 1980, Sp. 1028 ff. An der Konferenz von Arras haben Renés damaliger
Kanzler Jakob von Sierck und weitere Räte des Anjou teilgenommen, für ihren Herrn jedoch nichts er¬
reichen können, vgl. Miller (wie Anm. 149), S. 154 f.
161 Vgl. Cosneau: Les grands traités (wie Anm. 85). 116 ff.
162 S. Anm. 163.
163 Cosneau: Les grands traités (wie Anm. 85), S. 113: Item et que mondit seigneur de Bourgoigne ne sera tenu de faire
aucune foy, ne bornage, ne service au Roy ... mais sera et demourra exempt, de sa personne, en tous cas, de suhjeccion, hom¬
mage, ressor, souveraineté et autres du Roy, durant la vie de lui...
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