Full text: "Grenzgänger" (33)

ner bestimmten literarischen Richtung oder Gruppierung zu sein, sondern verstand 
seinen Verlag als ein allen modernen Tendenzen offenstehendes Haus. 
Nachdem der Verlag im ersten Jahr ausschließlich skandinavische Literatur gebracht 
hatte, tauchten die ersten französischen Autoren 1895 auf. Es handelt sich um zeitge¬ 
nössische Schriftsteller, die der junge Verleger persönlich kannte: Henry Becque, 
Paul Bourget, Anatole France, Gustave Geffroy, Abel Hermant, Octave Mirbeau, 
Emile Zola. Abgesehen von Zola waren sie noch nicht ms Deutsche übersetzt wor¬ 
den, und Langen war der erste, der sie auf dem deutschen Markt einführte. Zu Beginn 
seiner Verlagsgründung hatte er sogar einige Male selbst aus dem Französischen 
übersetzt - so Henry Becques Stück La Parisienne (Die Pariserin) und einen Gesell¬ 
schaftsroman von Paul Hervieux, Peint par eux-mêmes (Im eigenen Licht), und seine 
Übersetzungen können sich durchaus sehen lassen. Er beherrschte die Sprache, kann¬ 
te das dargestellte Pariser Milieu, und was er manchmal an Exaktheit fehlen ließ, 
machte er durch sein Sprachgefühl, das Nuancen nachzuzeichnen verstand, wieder 
wett. 
Ehe merkantile Erwägungen den Verleger zu Umstellungsstrategien führten, gehörte 
dessen Vorliebe dem “psychologischen Roman”, der in Frankreich die naturalisti¬ 
sche Literatur abgelöst hatte. Zu den Psychologen rechnete man beispielsweise auch 
Anatole France, der bereits internationale Anerkennung gefunden hatte, als Langen 
seinen Verlag gründete, von dem aber noch keine einzige deutsche Übersetzung vor¬ 
lag. Langen führte A. France in Deutschland mit einem modernen Gesellschaftsro¬ 
man, der Roten Lilie ein. Das Buch war im Sommer 1894 zum literarischen Haupt¬ 
ereignis der Pariser Sommersaison geworden, in Deutschland fand die Übersetzung 
kaum Käufer. Bald mußte Langen feststellen, daß sich nicht nur Anatole France, son¬ 
dern die gesamte französische psychologische Literatur in Deutschland, wo die natu¬ 
ralistische Strömung gerade erst im Kommen war, schlecht verkauften. 
Doch erlebte Langen nicht nur mit den “Psychologen” Enttäuschungen. Als beson¬ 
ders bitter empfand er den Mißerfolg, den er 1896 mit Ein Golgatha, der Übersetzung 
von Octave Mirbeaus Roman Le Calvaire ( 1886) erlebte. Hatte er doch geglaubt, da¬ 
mit einen Beitrag zur deutsch-französischen Annäherung zu leisten. Dieses Buch ge¬ 
hörte zu den ersten literarischen Versuchen der um 1850 geborenen Franzosen, die 
Ereignisse des deutsch-französischen Krieges ohne Haß darzustellen. Bei seinem Er¬ 
scheinen in Frankreich hatte vor allem eine Szene Aufsehen und Empörung erregt: 
Nachdem der Held, ein junger französischer Soldat, einen ebenso jungen preußi¬ 
schen ‘Feind’ auf Patrouille aus dem Hinterhalt erschossen hat, drückt er, entsetzt 
und erschüttert über seine eigene Tat, dem Sterbenden einen Kuß auf die Lippen. Ge¬ 
rade diese Szene ließ Langen von Hermann Schlittgen auf der Umschlagzeichnung 
der deutschen Ausgabe darstellen. Doch das Buch, das in Frankreich zehn Jahre frü¬ 
her von sich reden machte, blieb in Deutschland unbemerkt. Nach eigenen Aussagen 
setzte Langen von dieser ersten Mirbeau-Übersetzung im deutschen Sprachraum 
nicht einmal 300 Exemplare ab. 
Für mißglückte Transfer-Versuche ließen sich weitere Beispiele anführen. So be¬ 
mühte sich Langen vergeblich dämm, Henry Becque, einen Vorläufer des modernen 
Theaters, der nicht nur in Frankreich, sondern auch in Belgien und Italien ein erfolg¬ 
reicher Bühnenautor war, nach Deutschland einzuführen. Doch lehnte eine deutsche 
Bühne nach der anderen Becques Stücke ab, in denen der Autor kühl und emotionslos 
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