Reinhard Schneider
Die Grenzgängerthematik in historischer Perspektive
Das Thema der Saarbrücker Tagung vom Mai 1997 hieß: “Grenzgänger”. In betont
interdisziplinärer Weise, ggf. strittiger Diskussion, sollte dieses Phänomen unter¬
sucht, sollten strukturelle Züge herausgestellt, Erfahrungen gefaßt und fixiert wer¬
den.1
Alle Beteiligten wußten, wovon die Tagung handeln könnte, sollte und handeln wür¬
de. Doch die systematische Frage, was Grenzgänger denn sind, wie dieser Gegen¬
stand zu beschreiben, gar zu definieren ist, stand und steht vor größeren Schwierig¬
keiten. In der Planung wurde beispielsweise unterstellt, daß der Gegenstandsbereich
recht alt sei, daß mindestens Vorstufen des hier interessierenden Phänomens zeitlich
weit zurückreichen, auch auf viele Lebens- und Überlieferungsbereiche ausgegriffen
haben, also der wissenschaftlichen Erkundung durch zahlreiche und höchst unter¬
schiedliche Disziplinen zugänglich sind.
Aber die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Begrifflichkeit. Im Grimmschen
Wörterbuch, Band 9 von 1935 fehlt das Stichwort Grenzgänger. Die Belege beziehen
sich in diesem Band auf Grenzerhaltung, Grenzfälscher, Grenzfestung, Grenzfrevel,
springen dann aber sofort auf Grenzgamison, Grenzgebiet usw. Mit dem Erschei¬
nungsjahr 1935 ist allerdings kein terminus post für uns gegeben, denn die 2. Liefe¬
rung von Band 9 mit dem Abschnitt Grenzfort - Grille erschien bereits 1919.
Man wird das Stichwort Grenzgänger nicht simpel vergessen haben, denn auch Mey¬
ers Großes Konversationslexikon kennt in 6. Auflage von 1909 kein entsprechendes
Lemma. So spricht viel für eine recht späte Entwicklung, deren Zögerlichkeit sich
selbst noch in der 17. Auflage der (Großen) Brockhaus Enzyklopädie von 1969 fin¬
det, wenn in Band 7 vom Grenzgänger auf den Grenzarbeitnehmer verwiesen wird
und es dort erläuternd heißt: “Grenzarbeitnehmer, Grenzgänger, Arbeitnehmer, die
ihren Wohnsitz im Grenzgebiet (10-km-Zone) eines Landes haben und regelmäßig in
das eines anderen Landes zur Arbeit fahren. Ihre soziale und rechtliche Stellung re¬
geln meist zweiseitige Abkommen.”
In ähnlicher Weise beschreiben seither Nachschlagewerke das Phänomen Grenzgän¬
ger; das auf der Grundlage des Brockhaus erarbeitete und weit verbreitete dtv-Lexi-
kon übernimmt den Text fast durchgängig wörtlich: “Grenzgänger, Arbeitnehmer,
die ihren Wohnsitz im Grenzgebiet haben und regelmäßig in das Nachbarland zur Ar¬
beit fahren. Die dabei entstehenden sozialrechtlichen Fragen sind meist durch zwei¬
seitige Abkommen zwischen den Staaten geregelt.”* 2
Die zitierte Definition mag zunächst genügen, es sei denn, man zöge die rechtliche
Präzisierung ergänzend hinzu. So hat beispielsweise Ralph Scheidegger 1987 “Die
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Für wesentliche Hilfe bei der Themenvorbereitung danke ich Herrn Andreas Wagner.
dtv-Lexikon. Ein Konversationslexikon in 20 Bänden (Deutscher Taschenbuch Verlag)
1972, hier s.v. Grenzgänger, Bd.8, S.63.
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