Die Frage der welschen Einwanderung ins Oberelsaß im Mittelalter müßte auf einer
wesentlich breiteren Dokumentationsbasis wieder aufgenommen werden. Aber auch
so läßt sich historisch-geographisch schon einiges sagen. Es fällt zunächst auf, daß
die Stadt Rappoltsweiler im Mittelpunkt der Einwanderungsbewegung steht.
Man kann nicht umhin, hier einen Zusammenhang mit dem regierenden Adelsge¬
schlecht der Rappoltsteiner zu vermuten, und da wiederum mit dessen matrimonialer
und lehensrechtlicher Politik nach Westen, d. h. nach Lothringen.
Übrigens müßte man auch die Nachbarorte Gemar, Hunaweier, Bergheim, Reichen¬
weier, Bennweier, Kienzheim usw. in die Betrachtung einbeziehen. Demgegenüber
hat es den Anschein, daß sich Kaysersberg, Ammerschweier und Colmar sehr viel
deutlicher zurückhielten. In der Herrschaft Rappoltstein fanden die Grenzgänger mit
Sicherheit günstigere Bedingungen für Einbürgerung und Assimilation als anderswo,
vielleicht abgesehen vom Gregoriental der Abtei Münster. Aber nur im rauhen Berg¬
land des Urbeistals und den Weilern des Lebertals gelang es ihnen dank zäher land¬
wirtschaftlicher Arbeit, auch sprachlich die Oberhand zu gewinnen.
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Schließlich wäre noch ein freundliches Wort gegenüber den mittelalterlichen Schrei¬
bern der Herren von Rappoltstein fällig. Wenn wir verschiedene dialektale Phonetis-
men schon früh fassen können, dann dank ihrem guten Gehör. Man wird ihnen keinen
Vorwurf daraus machen, daß sie französische Namen in ihrem gewohnten mittel¬
hochdeutschen System verschrifteten.
Es gibt hingegen deutliche Anzeichen dafür, daß einige von ihnen bis zu einem ge¬
wissen Grad des Französischen mächtig waren. Anders läßt sich z. B. die Schreibung
-at(t)e mit stummem -e am Ende kaum erklären. Auch nicht Basemont, Pittit, Port
und Thiriat, jeweils mit stummem -t am Wortende. Eine französische Graphie
scheint auch in Urien vorzuliegen, ganz zu schweigen von dem sehr subtilen Sausex.
Während der Schreiber 1311 noch durchaus dialektal Saszey notierte mit Mono¬
phthong -a- und Endung -ey, wählte der Schreiber von 1338 den entsprechenden Di-
graphen -au- des Französischen und griff beim Suffix -ex auf eine eher seltene
Schreibung zurück, die übrigens auch in der Westschweiz existiert.
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Das mittelalterliche Grenzgängertum Lothringen - Elsaß zeigt sich nicht nur in kom¬
promißloser Auswanderung mit anscheinend spontaner Aufgabe der sprachlichen
Identität, sondern auch in mehr abstrakter Art in der Rezeption dialektaler Züge und
französischer Graphien des romanischen Westens durch die germanophonen Elsäs¬
ser.
Daß die Anpassung aber auch auf andere, unerwartete Weise vor sich gehen konnte,
zeigt in eindrücklicher Weise der deutsche Einfluß, welcher ein romanisches Wort im
Kern seines Wesens veränderte. Das aus lateinisch gallina “Huhn” entstandene ro¬
manische Wort geline ist natürlich ein Femininum.
Es lautet heute erwartungsgemäß lejli. n (=/a geline). Überraschenderweise erscheint
es im Zinsregister von Urbach/Freland von 1421 regelmäßig als Maskulinum z. B.:
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