Kommentieren wir kurz: Wir bemerken einen leichten Aufschwung der Grenzgän¬
gerzahlen zwischen 1961 und 1975. Die sichtbare Unterbrechung von 1966 kommt
von einer rückläufigen nationalen Konjunktur im Jahre 1966. Ab 1975 sehen wir die
Verlangsamung, man kann sogar von Stagnation sprechen, in der Kurve der Grenz¬
gänger. 1974 ist in der Tat ein Trennstrich auf verschiedenen Ebenen:
- Im Oktober 1973 bricht weltweit die Erdölkrise aus, deren politische, soziale und
wirtschaftliche Folgen weit über 1974 hinaus spürbar sein werden.
- Europa erweitert sich: seit Januar 1973 sind Dänemark, Irland und Großbritannien
der Europäischen Union beigetreten. Die neun europäischen Länder wollen voraus¬
sichtlich keine neuen Immigranten (von außerhalb der EU) mehr hereinnehmen. Mit
diesen Bestimmungen fördern die europäischen Politiker die Arbeitsmobilität inner¬
halb der EU und geben den binneneuropäischen Grenzgängern eine neue Legitimität.
- Durch die Erdölkrise ist die gesamte traditionelle Industrie (Textil, Kohle, Stahl...)
in ihrem Kern getroffen. Das wirtschaftliche Gleichgewicht in der Großregion um
Luxemburg ist total zerstört. Verschiedene nationale Politiken bringen unterschiedli¬
che Resultate auf regionaler Ebene. Einige Grenzregionen entwickeln sich zu wirt¬
schaftlich starken Polen, andere werden schwächer.
Diese wirtschaftliche Gleichgewichtsstörung beeinflußt den Grenzpendlerstrom in
direkter Weise: Luxemburg erscheint vielen als idealer Arbeitsort, da hier nicht nur
genügend Arbeitsplätze vorhanden sind, sondern auch bessere Löhne ausbezahlt
werden.
Die nationale Wirtschaftspolitik hat Erfolg, in Luxemburg ist das gesamte Arbeits¬
stellenvolumen seit 1975 in konstantem Aufschwung. Bei den Grenzgängern stabili¬
siert sich die Zahl der Neuschaffungen jedoch bis 1979 bei 11.500, danach aber
kommt es zum Aufschwung. 1975 stellen die Grenzgänger 10 % der aktiven Bevöl¬
kerung dar. Sie werden in der Presse als starke Minorität bezeichnet.
Die luxemburgische Regierung schlägt 1975 eine sehr energische Antikrisenpolitik
ein. Es handelt sich um eine Zweifrontenpolitik: einerseits das öffentliche Investieren
(mit Steuergeldem) und die Modernisierung der traditionellen Stahlindustrie und an¬
dererseits der gleichzeitige Aufbau des Dienstleistungsbereiches (secteur tertiaire),
insbesondere des Bankenwesens. So gerät Luxemburg nach und nach in Abhängig¬
keit des ausländischen know-how, das dem Lande unter anderem von den Grenzgän¬
gern vermittelt wird.
Die Öffnung des Landes für die Grenzgänger Anfang der siebziger Jahre ist für mich
ein bewußter Schritt, der nicht zuletzt in der demographischen Lage des Landes eine
Erklärung findet: wenig junge Erwerbskandidaten und Qualifizierte, immer mehr
Pensionierte und zuviele Arbeitsschaffungen in neuen Wirtschaftssektoren im Ver¬
gleich zur aktiven Bevölkerung. Das Stellenangebot in Luxemburg ist also anfangs
der siebziger Jahre stärker als die Nachfrage. Deshalb braucht Luxemburg immer
mehr Grenzgänger.
Dazu kommt, daß die nahen Grenzgebiete der drei Nachbarländer ein unerschöpfli¬
ches und verfügbares Arbeitsreservoir darstellen: Die Erdölkrise von 1973 und die
darauffolgende Stahlkrise haben in Frankreich und in Belgien zu massiven Arbeits¬
abschaffungen geführt. Beide Länder liefern die meisten Grenzgänger nach Luxem¬
burg. Da die Krise im Saarland etwas später emtrifft als in Belgien und Frankreich,
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