Full text: "Grenzgänger"

ren dabei allerdings auch Prägungen, die bis in die Moderne reichen. Dies gilt etwa 
für ghettoähnliche Unterkunftsformen im Arbeitsgebiet, für mancherlei Ressenti¬ 
ments seitens der jeweiligen Bevölkerung, für ein überproportionalisiertes Angewie¬ 
sensein auf die Arbeitsorganisatoren bzw. eine Kanalisierung der Arbeiterströme. 
Hier wird ein staatlicher Organisationsdruck ebenso spürbar wie gelegentlich ein 
neues Verhältnis im Beziehungsgeflecht von Vorgesetztem und Arbeiter. Dabei sei 
außer acht gelassen, ob sich tatsächlich neue modellartige Formen herauskristalli¬ 
sierten, mindestens aber ist es nötig darauf hinzuweisen, daß unter den Wanderarbei¬ 
tern gleicher Herkunft sich durchaus soziale Absicherungssysteme entwickeln konn¬ 
ten. 
Zu erwähnen ist zunächst die sog. Holland(s)gängerei.16 Die relativ hoch entwickelte 
Wirtschaft in Holland war auf billige Arbeitskräfte angewiesen, wenn sie größere 
Projekte betreiben wollte und die eigene, an Wohlstand gewöhnte Arbeiterschaft 
nicht für jede Tätigkeit zu gewinnen war: also vorrangig für den Deichbau, für Ernte¬ 
hilfe, für die Produktion von Ziegeln und für Stukkaturen, auch zur Trockenlegung 
von Mooren und Feuchtgebieten. Dabei griff man gern auf Arbeitskräfte von jenseits 
der Grenze zurück, und sie kamen vorzugsweise aus Oldenburg, Lippe, Münster, 
Hannover und Tecklenburg. Deren sog. Hollandgang scheint den nordwestdeutschen 
Arbeitsmarkt schon seit dem 17. Jh. und seither zunehmend geprägt (und entlastet) zu 
haben. Um 1811 arbeiten beispielsweise 12000 deutsche Wanderarbeiter als Gras¬ 
mäher, was nur kurzfristig in der Zeit der Heuernte möglich ist. Die Mindener Regie¬ 
rung berichtet dennoch 1829 von dem “tiefeingewurzelten alten Gebrauche” der Hol¬ 
landgängerei. Aus der Perspektive der deutschen Grenzgänger war die Arbeit attrak¬ 
tiv: Arbeitstage mit ca. 16 Stunden erbrachten in etwa einen doppelten Arbeitslohn, 
das holländische Kanalsystem ermöglichte schnelle Anreise, erleichterte auch das 
zwingend notwendige Mitbringen der Arbeitsgeräte. 
Man nannte diese Arbeiter nach ihrer Herkunft, z. B. “Lippser”, nach ihrer Haupttä¬ 
tigkeit, beispielsweise “Ziegler” oder nach ihrem Ziel, eben “Holland(s)gänger”. 
Hier entwickelten sich auch professionelle Strukturen, gab es Makler für Arbeitskräf¬ 
te und staatliche Agenten. Sogar Seelsorger stellte man ihnen, es sei denn, der heimi¬ 
sche (deutsche) Ortsgeistliche kam im Sommer seine Pfarrkinder selbst besuchen, 
zumal häufig die Männer einer ganzen Ortschaft gemeinsam zu einem bestimmten 
Auftraggeber zogen. 
Die Lippischen Ziegler verfügten über die spezialisierteste Organisation,17 die man¬ 
cherorts eine Monopolstellung beanspruchte. Ihr Ziel war nicht nur Holland, sondern 
diese Wanderarbeiter zogen auch nach Skandinavien, Süddeutschland und Rußland. 
Manche Details ihrer Tätigkeit sind hochinteressant: Als Regelfall kann gelten, daß 
ein Lippischer Zieglermeister mit dem ausländischen Auftraggeber einen Vertrag 
16 Albin Gladen und Antje Kraus, Deutsche Wanderarbeiter in den Niederlanden im 19. Jahr¬ 
hundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterwanderung, in: Bevölkerung, Wirtschaft, 
Gesellschaft seit der Industrialisierung. Festschrift für Wolfgang Köllmann, hrsg. von Diet¬ 
mar Petzina und Jürgen Reulecke (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technik¬ 
geschichte 8) Dortmund 1990, S.321-341. 
17 Oskar Asemissen, Die lippischen Ziegler und Hollandsgänger und die Organisation ihrer 
Arbeit, in: Der Arbeiterfreund 23 (1885) S.l-13. 
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