Sichtung vermittelt den Eindruck, als seien die Formen solch nachweisbarer
Politik nicht sehr aggressiv und kämpferisch gewesen, als seien die Zuspit¬
zungsformen im allgemeinen relativ moderat geblieben. Dies dürfte im wesent¬
lichen daran liegen, daß mittelalterliche Reiche, Staaten und Territorien in eth¬
nischer Hinsicht zumeist sehr vielgestaltig waren und diese Differenziertheit
wohl auch respektiert wurde. Für großräumige Herrschaftskomplexe bot zudem
das beliebte Modell der herrscherlichen Personalunion die Chance, daß der
Herrscher durch eigene reiche Sprachenkenntnisse die sprachlichen Hürden zwi¬
schen seinen Teilreichen zu überwinden vermochte - was relativ gut belegbar
ist. Die verhängnisvolle Verknüpfung von sprachlicher Ambition mit staatlicher
Macht und Durchsetzungskraft scheint in ausgeprägter Form für das Mittelalter
nicht belegt. In Augustins eindrucksvollem Zeugnis hätte man solche sprachen¬
politischen Möglichkeiten allerdings kennenlemen können. Es soll jedoch nicht
darüber spekuliert werden, warum an Roms schlechtem Beispiel sich niemand
erkennbar orientierte. Dabei braucht man nicht die Illusion zu hegen, sprachli¬
che Distanzen bis hin zur Feindschaft habe es nicht gegeben. Nur die verhäng¬
nisvolle staatliche Sprachenpolitik, die Feindschaften so gern aufgreift, so leicht
schürt oder entfesselt, selbst wenn sie deren Beseitigung vielleicht ursprünglich
intendierte, ist nicht erkennbar ausgeprägt. Hinreichende Distanzen zwischen
unterschiedlichen Sprachgemeinschaften gab es, und ein letztes Zeugnis, das
unsere Skizze mit einer eher tierisch verbissenen Variante ergänzen kann, soll
dies dokumentieren: Der schwäbische Dominikanerreisende Felix Faber berich¬
tet in seinem Evagatorium von seiner Pilgerfahrt 1483, als er in einer venezia¬
nischen Herberge Quartier nahm: „Das gesamte Haus, Wirt und Wirtin, alle
Knechte und Mägde waren deutscher Zunge, und man hörte in jenem Haus kein
Wort Italienisch; dies empfanden wir als eine einzigartige Wohltat, weil es eine
wahre Strafe ist, mit Menschen zusammenzuleben, mit denen man sprachlich
nicht kommunizieren kann. Schon bei unserem Eintritt sprang uns ein Hund
entgegen, der Wächter des Hauses, groß und stark, und mit seinem wedelnden
Schwanz brachte er seine Freude zum Ausdruck, und er sprang an uns hoch,
wie es Hunde bei Leuten tun, die sie kennen. Dieser Hund empfing alle Deut¬
schen, aus welchem Teil Alemanniens sie kamen, mit solcher Freude. Sed ad
ingressum Italici, Lombardi, Gallici, Franci, Sclavi, Graeci, vel alterius pro-
vinciae extra Alemaniam, adeo irascitur, quod quasi rabidus aestimetur...“31
*
31 Faber, Felix: Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem 1, 1843,
S. 84; zitiert nach: Pausch, Oskar: Das älteste italienisch-deutsche Sprachbuch. Eine
Überlieferung aus dem Jahre 1424 nach Georg von Nürnberg, Wien 1972 (Veröff. d.
histor. Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1) , S. 50. -
rabidus (tollwütig) habe ich emendiert statt des offensichtlich unsinnigen radibus bei
Pausch.
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