Full text: Sprachenpolitik in Grenzregionen

unter den ländlich-agrarischen Bedingungen vorindustrieller Zeiten konnten 
Gruppen von Migranten derart geschlossene Neusiedlungen bilden, daß stabile, 
also mehr oder weniger selbstgenügsame Kultur- und Wirtschaftsgemeinschaf¬ 
ten entstanden, die auch über viele Jahrhunderte hinweg noch ihre sprachlichen 
und kulturellen Besonderheiten zu wahren vermochten. Die im 15./16. Jahr¬ 
hundert von albanischen Flüchtlingen gebildeten albanischen Dörfer in Südita¬ 
lien wären hier als Beispiel zu nennen, oder die Siedlungen der Siebenbürger 
Sachsen, Banater Schwaben und Wolgadeutschen in Südost- und Osteuropa. 
Daß die heutigen (National-)Staaten kein Interesse daran haben, die Assimilati¬ 
onstendenzen von Zuwanderergruppen durch Maßnahmen zum Schutz von de¬ 
ren sprachlichen, ethnischen, kulturellen Besonderheiten aufzuhalten, sondern 
eher im Gegenteil um Förderung der Assimilation bemüht sind, kann ihnen 
grundsätzlich nicht verargt werden. Jede Gesellschaft muß zur Wahrung ihres 
sozialen Zusammenhalts bemüht sein, die permanente Konfrontation mit dem 
Fremden, die durch den Zustrom von Migranten entsteht, zu verarbeiten, sei es 
im Wege der kulturellen Anverwandlung der Zugewanderten, sei es unter Um¬ 
ständen auch mittels der Bildung irgendwelcher Formen von kultureller Syn¬ 
these. Der Verzicht auf die Integration der Migranten käme auf Dauer nicht nur 
der Selbstpreisgabe der Gesellschaft gleich, sondern beraubte die nachfolgenden 
Generationen der Migrantenbevölkerung auch jeglicher Chance zu gleich¬ 
berechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. 
Ganz anders sieht dies dagegen bei traditionellen Minderheiten aus. Bei diesen 
altansässigen Gruppen, die meist durch Eroberung, über ihre Köpfe hinweg 
ausgehandelte Grenzverschiebungen oder auch nur durch dynastische Zufällig¬ 
keiten unter die Herrschaft (fremd-)nationaler Staaten geraten sind, spricht ein 
elementares Fairneß- bzw. Gerechtigkeitsargument für die Anerkennung eines 
berechtigten Interesses auf Achtung (und Bewahrung) ihrer andersartigen 
Identität. Derartige autochthone Volksgruppen sind auf ihre eigenen kulturellen 
Standards, auf ihr eigenes Gruppenleben orientiert. An Einverwandlung in die 
sie umgebende Mehrheitsgesellschaft sind sie im Prinzip nicht interessiert, im 
Gegenteil: Durch die Herrschaftsmittel des Staates erzwungene Assimilation 
wird von ihnen allzuleicht als unbilliger Akt ,fremder1 Herrschaft empfunden, 
führt damit auf Dauer zur völligen Entfremdung zwischen Staat und betroffe¬ 
ner Bevölkerungsgruppe. Flucht in die Gewalt und die dann einsetzende Eska¬ 
lationsspirale von Gewalt und Gegengewalt drohen im Ergebnis in bürger¬ 
kriegsartige Zustände zu münden, in denen der Staat letzten Endes nicht mehr 
Wahrer von ,Recht und Ordnung4 ist, sondern von wichtigen Bevölkerungstei¬ 
len als Feind empfundene Partei in einer bewaffneten Auseinandersetzung. 
Frankreich - um ein Beispiel zu nennen - hat im Fall Korsika schmerzhaft er¬ 
fahren müssen, daß derartige Situationen einer traditionellen politischen Lösung 
kaum mehr zugänglich sind, von den Problemen Großbritanniens in Nordirland 
und Spaniens im Baskenland ganz zu schweigen. Integration dieser Volksgrup¬ 
pen in den Staat erfordert - um es kurz auszudrücken - Rücksichtnahme auf die 
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