Sprachgemeinschaften auf einem historisch zu einem Staat zusammengefaßten
Territorium und nicht das Gegenteil, der Nationalstaat mit ethnisch ,reiner1,
d.h. sprachlich und kulturell einheitlicher Bevölkerung.
Dies verweist auf einen historischen Grundtatbestand der Beschäftigung mit
Sprachenpolitik: Erst mit dem Aufkommen des Nationalismus und der moder¬
nen Nationalstaatsidee wurde das Nebeneinander mehrerer Sprachen, das so ty¬
pisch für die Herrschaftsgebilde Alteuropas gewesen war, auf einmal zur schief
beäugten Anomalie. Die Vielfalt der Ethnien und Sprachgruppen erschien auf
einmal als hinderlich auf dem Wege zur staatlichen Selbstverwirklichung der
,Nation4 im eigenen Nationalstaat - eine Vorstellung, die selbst so verquer zur
Nationalstaatsidee stehende Gebilde wie die Habsburgische Doppelmonarchie
nicht unberührt ließ, wie am wachsenden Rigorismus der Madjarisierungspolitik
der östlichen Reichshälfte im späten 19. Jahrhundert zu demonstrieren wäre.
Der Zusammenbruch der alten Vielvölkerstaaten im Ersten Weltkrieg ließ das
Thema „Minderheitenschutz“ dann zum vielbeachteten Sujet des Völkerrechts
werden (Blumenwitz 1992, 37 ff.; Capotorti 1991, 599 ff.; Thomberry 1991,
38 ff.; Kimminich 1985, 57 ff.; Veiter 1984, 20 ff.; Ermacora 1972, 5 ff.; Rabl
1972, 97 ff.). Auf den Trümmern der alten multinationalen Reichsgebilde soll¬
ten nach dem Willen der Sieger - ganz im Sinne der Wilson’schen Vierzehn
Punkte - ,moderne4 Nationalstaaten entstehen. Diese neuen Nationalstaaten
hatten jedoch von vornherein mit einem gewichtigen Problem zu kämpfen: Die
demographische Realität in den neuen Staaten stand in ethnisch-sprachlicher
Hinsicht quer zum Nationalstaatskonzept ihrer Gründung. Der ,National4Cha¬
rakter der neuen Gebilde, deren „nationale Einheit“, war zunächst mehr An¬
spruch als Wirklichkeit. Die Tendenz, die Realitäten mit Gewalt dem selbstge¬
setzten Anspruch anzugleichen, lag nahe. Der Furor, den Junge4 Nationen bei
den Versuchen des „nation-building“ gegenüber widerstrebenden Gruppen an
den Tag legen, bereitete nun auch den Siegermächten Sorgen. Völkerrechtlicher
Minderheitenschutz sollte diese Tendenzen eindämmen, den Siegern das Kon¬
fliktpotential vom Leibe halten. Die Minderheitenschutzbestimmungen der Pa¬
riser Vorortverträge waren allerdings Diktate, und so wurden sie auch behan¬
delt. Die betroffenen Staaten suchten sie zu unterlaufen, auszuhöhlen, abzu¬
schütteln, und das Interesse der Großmächte an ihrer Durchsetzung war eher
gering (Hofmann 1992, 5 f.; Kimminich 1985, 57 f.; Rabl 1972, 108 ff.).
Im Ergebnis ist das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes nahezu auf der
ganzen Linie gescheitert. Selbst das Konzept galt nach 1945 als diskreditiert
(Hofmann 1992, 6; Kimminich 1985, 57; Thomberry 1991, 113 ff.). Anstelle
der - unter dem Verdacht des Kollektivismus4 stehenden - Instrumente des al¬
ten Minderheitenschutzes glaubte man mit dem individuellen Menschenrechts¬
schutz die Patentlösung gefunden zu haben (Hofmann 1992, 6; Kimminich
1985, 62; Ermacora 1983, 263 ff.). Es dauerte Jahrzehnte, bis man sich dessen
gewahr wurde, daß der Schutz individueller Menschenrechte und das Diskri¬
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