der Welt. Dies gewinnt besonderes Gewicht angesichts der Tatsache, daß mehr
als 90 % der in der UNO vertretenen Staaten multinational, „vielrassig“ und
daher voller Minderheitenprobleme sind, die leider nur zu oft nach dem
dümmsten und brutalsten Pattem „gelöst“ werden: dem der Vertreibung, für die
jetzt die dubiose Bezeichnung „ethnische Säuberung“ erfunden wurde.
Es wären noch viele Gesichtspunkte zur Sprachenfrage und deren politischer
Handhabung in Betracht zu ziehen, denn der jeweilige Nationalismus in der
Sprachenfrage verdeckt ja sehr oft hinter dem „ideologischen Integral“ der Na¬
tionalbewegung die Vielfalt von Motivationen bei einer Entscheidung, zu wel¬
cher Nation man sich bekennen will. Aber die Sprache, ihr Gebrauch wie auch
ihre gefährliche Ideologisierung, bleibt zweifellos ein vielseitiger Schlüssel zu
weitreichenden gesellschaftlichen Problemen, Verwerfungen und Konflikten,
ganz zu schweigen von der Bedeutung der Sprache für die kulturelle Identität
von Völkern und Gruppen, nämlich durch die Entstehung einer „National¬
literatur“, die ja gerade für das tschechische Volk eine eminente Rolle als
Nationalpädagogik im weitesten Sinne besaß und bis heute besitzt. Wie in
Frankreich der écrivain, ist der Schriftsteller im tschechischen Bewußtsein das
Gewissen der Nation, eine Rolle, die er in Deutschland nie spielen konnte.
Hier war eher von den politischen, sozialen und rechtlichen Problemen in der
deutsch-tschechischen Auseinandersetzung die Rede und von den Möglichkei¬
ten, dieselbe zu kanalisieren und damit zu domestizieren. Auf den sozialen
Aspekt der Sprachenfrage hat Tomás Garrigue Masaryk 1907 in einer Debatte
des Wiener Reichsrates das Parlament schon früh nachdrücklich hingewiesen:
„Die nationale Frage ist ja nicht nur die Sprachenfrage. Sie ist zugleich eine
wirtschaftliche und eine soziale Frage. Die czechischen Studenten zu meiner
Zeit waren älter, weil sie erst Deutsch lernen mußten, die Sprachenfrage ist da¬
her auch eine Geldfrage ...“ Es versteht sich fast von selbst, daß in der Ge¬
schichte der österreichischen Sozialdemokratie vor 1918 der soziale Aspekt des
Sprachen- und Nationalitätenproblems eine besonders wichtige Rolle spielte
und daß von dort auch die konkretesten und besten Lösungsvorschläge kamen.
Es waren dies vor allem Karl Renner und Otto Bauer.
Was ist die Sprachenfrage heute? Oder konkreter gefragt: Kann man aus dem
Sprachenkampf in der Donaumonarchie und aus den damals gewonnenen Lö¬
sungsansätzen etwas für die Gegenwart lernen? Wie weit wir heute in Europa
im allgemeinen hinter den Sprachengesetzen der Donaumonarchie herhinken,
mag eine Schlußüberlegung klarmachen: Würde heute in der Bundesrepublik
das nationale Personalitätsprinzip Karl Renners und des „Mährischen Aus¬
gleichs“ von 1905 eingeführt, also Dinge, die in der Praxis Österreichs längst
erprobt waren, dann gäbe es in Deutschland Abertausende türkische Volksschu¬
len und in den größeren Städten insgesamt Hunderte von türkischen Mittelschu¬
len und Höheren Schulen und wohl auch eine türkische Universität. Ich möchte
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